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Sonntag, 7. August 2022

Will the Circle be unbroken? - Sommer '22

Ohne Maddrax is' auch keine Lösung. Zwar hatte ich mich zu einer Lesepause von drei Ausgaben verdonnert, denen ich mich dann am Ende des Sommers am Stück widmen kann. Weil ich meinen Fokus ein wenig auf andere Lektüren legen wollte. Ein Vorsatz mit Hintertür, denn er bezog sich ja nur auf die aktuelle Serie. Ältere Bände der geilsten Groschenromane der Welt buhlten nämlich nun verstärkt um meine Aufmerksamkeit, folgenden Heftchen wurde sie denn auch zuteil: MX366 - Tausend Jahre wie ein Tag von Sascha Vennemann, MX27-Ruf des Blutes von Timothy Stahl und MX443 -Die Erleuchteten von Jo Zybell. Vennemanns Beitrag changiert zwischen Iron Sky, Indie Jones und der Grundidee von  Philip K. Dicks "Orakel vom Berge": Das nationalsozialistische Deutschland hat seinen Kampf gewonnen und eine arische Diktatur etabliert. Allerdings in einer Parallelwelt, die nun dank eines Artefakts auf der uns vertrauten postapokalytischen Erde auftaucht. Sensibles Thema, überbordende Satire: Reichsflugscheiben, ein durchgeknallter GröFaz, ein Robo-Adolf, dazu kaum einsatzfähige Reichsflugscheiben... eine gelungene Gratwanderung! Ebenfalls ein Conspiracy-Sujet, ebenfalls witzig und unterhaltsam, im direkten Vergleich jedoch ein eher harmloses Vergnügen: Jo Zybell dreht das Reptiloidenthema im Ringweltsystem auf den Kopf, weil die reptilienhaften Messisianer nun die Humanoiden fürchten. Das Personal hat Namen wie Puudin und Edoan, die Hauptstadt der Schwurbler heisst Schwurb'laa, das heilige Buch der Sekte trägt den Namen Dr. Axel Stolls. Tränen gelacht. Und "Der Ruf des Blutes" ? Der Blick zurück zeigt, wie sich gut, aber auch wie anders die Serie in ihren Anfängen war: Die Story um eine Nosfera-Jägerin und ihre jugendliche Community überrascht mit zwei Wendungen und geht (trotz oder wegen?) ihres simplen Strickmusters mehr an die Emotionen denn ans Zwerchfell. Von der Komplexität heuter Geschichten weit entfernt.

Wo wir schon bei Emotionen sind: Der Lichtwolf ist für mich eine der besten Entdeckungen der letzten Zeit, ich habe sogar - klarer Verstoß gegen einen eherne Vorsatz -  über ein Abo nachgedacht. Klar: Für Publizierende, besonders für jene, die mit kleinen geilen Druckerzeugnissen die Nischen meines literarischen Interesses ausleuchten, sind abgeschlossene Abos Gold wert, weil sie Planungssicherheit ermöglichen. Allerdings hab ich dann keines gebucht. Und plötzlich der Knall: In Ausgabe Lichtwolf #74 mit dem bezeichnenden Schwerpunkt Weitermachen! kündigt Herausgeber Hieronimus Schneidergger das Ende der 22jährigen Geschichte des Philo-Fanzines an. Ein Grund, das lässt er ganz klar durchblicken: Zuwenig verlässliche, regelmäßige Leserschaft. Viel Frust, finanzielle Einbußen. Offenbar Zeit, den Wolf wieder zurück in die Steppe zu lassen. Mehr als bedauerlich. Hätte mein Abo das Blatt vielleicht wenden können? Bei den Zahlen, die Schneidegger in einer betriebswirtschaftlichen Bilanz freimütig abdruckt, frage ich mich das ernsthaft. 


Im Innern des Lichtwolfes dann wieder viele lesenwerte Artikel. Im Angesicht der kommenden Einstellung des Periodikums scheinen sie mir eindringlicher als sonst. Besonders Marc Hieronimus' Essay "Weitermachen? Bloss nicht!" ist ein finsterer Blick in den Abgrund, auf den unsere Hyperkonsum-Zivilisation verblüffend unbeirrt zurast. Dabei bezieht er sich auf die Arbeit des Philosophen und Theologen Ivan Illic ("Meine Arbeit ist ein Versuch, mit großer Traurigkeit die Tatsache der westlichen Kultur zu akzeptieren"), den er ausfühlich vorstellt. Kommt die große Einsicht von selbst? Ein Gespräch mit einer jungen FFF-Aktivistin im vergangenen Mai, an deren Name ich mich bedauerlicherweise nicht mehr erinnern kann, hat mich tagelang mit Hoffnung erfüllt. Die Waldbrände während meines Sommerurlaubs und die Tonnen von Plastikmüll, die am Ferienort produziert wurden, haben mir einen deprimierenden Dämpfer verpasst. Und ich war nur in Südfrankreich, nicht in Brasilien oder Mumbay. Den höllischen Kreis von Wachstumswirtschaft und Ausbeutung von MEnschen und Ressourcen zu durchbrechen wird bedeuten, sich auf ein radikal anderes Leben einstellen zu müssen. "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass," ist sicher kein funktionierendes Motto. - Auch herrlich, witzig, interessant oder inspirirend in dieser Ausgabe: Die Vorstellung des Alternativwolfs, Michael Helmigs Blick auf die antike Strömung der Bewegungsleugner anlässlich eines Athen-Besuchs, Ewgeny Kasakows True-Unrechtsstaat-Thriller um den polnischen Mehrfach-Staatsfeind Sobolewsky.

Kackendreist: Druckfrisch und vom Feuilleton bejubelt hat sich Andrea Abreu mit ihrem Debut So forsch, so furchtlos auf meinem Lesestapel vorgedrängelt, denn es verbindet mehrere Motive, für die ich nicht nur generell empfänglich bin, sondern nach denen mir zur Zeit auch besonders der Appetit steht: Provinz, Prekariat, Pubertät. Und Südeuropa - Die vier P's also, wenn ich das vom Ende des Worts dazumogeln wöllte. Abreu erzählt das schmerzhafte Zerbrechen einer Mädchenfreundschaft auf Tenerriffa. Allerdings nicht an den küstennahen Urlaubsorten, wo die Eltern von Isora und ihrer Freundin, der Ich-Stimme, schuften müssen, sondern im Innern der Insel. Ihr Dorf ist die Hänge des Vulkans gebaut. Eine Begegnung mit einem blonden Touristenmädchen, das sich aus ihrem Resort in die struppige Wildnis der Vulkaninsel locken lässt, gehört dann auch zu den rätselhaftesten Szenen des Buches. Im Mittelpunkt steht aber ganz klar das sexuelle Erwachen der beiden Mädchen. Unberechtigt ist der Jubel um diesen kurzen Roman tatsächlich nicht: Der Sound ist eigensinnig, derb fäkal und sehr poetisch, Haupt- und Nebenfiguren zum Verlieben und Verzweifeln, die Atmosphäre ist schwül, drückend, abenteuerlich. Allerdings versaut das Ende einiges, da es einer erzählerischen Konvention aus der Mottenkiste folgt: Eins der Mädchen, natürlich das enfant terrible des Duos, die angebetete Isora, kommt ums Leben, als sie sich trotzig aus der Enge ihrer Umgebung losreißt und ohne Rücksicht auf die schüchterne Freundin ihre Chance ergreift, den Sehnsuchtsort "Meer" zu erreichen. Oh sorry das war ein Spoiler. Aber ich bin auch ein bisschen sauer, weil es bis dahin so gut war.

Nehme ich das hier tatsächlich mit an den Strand? Ina Elbrachts Beitrag zur "Grusel Thriller"-Reihe in Jörg Kleudgens BLITZ-Verlag schien mir erst gar nicht so recht in die Jahreszeit zu passen, aber weil Papageien drin vorkamen, konnte sich trotzdem ein sommerliches Lesefeeling einstellen. Das Taschenbuch (mit Blutschloss-samt-Fledermaus-Logo sowie Coverbild von Pulp-Legende Sieber-Lonati äußerst stimmig aufgemacht) hatte lange genug auf dem Stapel gelegen; außerdem mag ich Ina Elbrachts Bücher. Das Ding war also reif. In Der Todesengel lerne ich zunächst nicht die Hauptfigur Helene kennen, eine erfolglose Immobilienmaklerin am Rande der Verzweiflung, sondern lese, wie das Mädchen Gerda Grope von einer rätselhaften Unbekannten in den Weltkriegswirren des zerbomben Köln gerettet und schließlich an Kindes statt angenommen wird. Später wird sie mir als Helenes verschrobene und stinkreiche Auftraggeberin, der Nachnahme ergänzt um ein vornehmes "von", wiederbegegnen. Da stelle ich als Leser zwar erste Verbindungslinien her, doch was die Autorin tatsächlich im Schilde führt, merke ich erst, wenn es zu spät ist - für Helene. Denn einfach und gradlinig ist in dieser Geschichte mit ihren drei Zeitebenen erstmal nichts. Mit viel schriftstellerischer Ironie gemahnt zwar die schnodderige Art der Heldin an die Bahnhofsliteratur vergangener Tage - "Der Todesengel" ist hingegen ein Treppenturm aus Motiven, Hinweisen, Szenen und Handlungen, das leicht weg zu lesen ist, aber nachhaltig wirkt. Ein Papageienanwesen nebst seltsamer Dienerschaft, das Motiv des Überschminkens, die Verwirrung der Begriffe und eine alternative Deutung der Kölner Richmodis-Sage - es ist die große Kunst von Ina Elbacht, ihre Erzählung mit Leichtigkeit und Sprachwitz, aber auch mit drastischen Horrorszenen bis zur Auflösung in der Spannung zu halten. Mit dem Lüften des Geheimnisses aber ist es in einem echten "Grusel Thriller" noch nicht getan. Helene muss am Ende versuchen, einen dämonischen Kreislauf zu durchbrechen, da gehört sie sich schon nicht einmal mehr selbst. Zum Finale wird es also nochmal richtig spannend.

Ein bisschen weniger spannend, dafür ergreifend und witzig ist Caravan, im englischen Original "Two Caravans" von Erfolgsautorin Marina Lewyca. Hab ich als recht zerlesenes Exemplar auf dem Campingplatz aus dem Regal gefischt und bin nicht weniger als beglückt von diesem Fund. Die ukrainischstämmige Britin Lewyca ist mir natürlich mehr als einmal auf den Stapeltischen der Buchhandlungen begegnet, zum Kauf gereizt hat mich ihr Bestseller Eine Geschichte des Traktors auf Ukrainisch aber nicht. Zehn Jahre hat dessem Nachfolger Caravan mittlerweile auf dem Buckel. Die Geschichte um eine Gruppe von Erntehelfer/innen, ihrer Flucht durch England, ihrer Zersplitterung und ihr Finden unterschiedlicher Erkenntnisse, Glücksmomente und Zukunftsaussichten ist konsumierbar geschrieben, entwickelt jedoch mehr Tiefgang, als der Anfang auf der Erdbeerfarm vermuten lässt. Der nämlich verbreitet mit seinem dicken Bauern und der Hackordnung innerhalb der multikulturellen Zwangsgemeinschaft noch ein typisch britisches Wallace&Gromit - Feeling: Skurril, aber harmlos. Doch mit fortschreitender Handlung entfaltet die Autorin ein gesellschaftliches Panorama, das neben vielen Themen auch die Zerrissenheit der ukrainischen Bevölkerung zwischen prorussischen und prowestlichen beleuchtet -aktuell und erhellend. Arbeiterklasse, Klimakrise, Globalisierung und Ausbeutung -  Lewyca bohrt sich mit großer Menschlichkeit in die Kernkonflikt unserer Zeit. (s.a. David Goodhart!) Eine extrem gewinnbringende Lektüre!

Aus unserer beliebten Kolumne Comics & Sachbuch: 

David Goodhart - The Road to Somewhere, ein offenbar in Großbritannien recht umstrittenes Buch, das in eine ähnliche altlinke Kerbe schlägt wie hierzulande die Wagenknecht. Streitbar, aber argumentativ auch in (m)einem akademisch-woken (früher: salonlinken) Umfeld nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem eher quergelesen als sorgfältig studiert.

Herrn Hases Haarsträubende Abenteuer No.7 - Ganz im Ernst von Lewis Trondheim fand ich im Vergleich zu den anderen Bänden etwas nichtssagend, daran konnten auch die skurrilen Interviewpartner von Hases Freundin nix ändern. Das Herr-Hase-Reboot Die neuen Abenteuer des Herrn Hase No.1 - Eine bessere Welt  - wir haben die 90er verlassen und es gibt mittlerweile Smartphones mit Dating-Apps - ist hingegen wirklich spitze! Ungewöhnlich stringent erzählt - Herr Hase will sich korrekt verhalten und löst einen verheerenden Polizeieinsatz aus. Mit bitteren Anklängen an das Bataclan-Massaker in Paris 2015. 

Lange habe ich auf die dritte Ausgabe der TSVEYFL - Dissensorientierte Zeitschrift mit dem Schwerpunkt Anarchismus und Autonomie warten müssen. Hat sich unterm Strich so halb gelohnt, wenn ich M.F.J. Schnetkers "Die Freiheit, die sie meinen" und F. Schuhs "Digital selves, digital work & digital labor" als gelungenste von insgesamt sieben Aufsätzen zu Grunde lege.

Abschließend ein gescheitertes Vorhaben: Mit Jack Karouaghs Big Sur bin ich ganze 14 Seiten weitergekommen und hab mittlerweile wohl komplett den Rückholfaden verloren. Und auch andere Lesepläne für die nun verflossenen Ferien bleiben wohl noch länger aufm Eis. Zum Glück werden sie mir nicht weglaufen! Denn nun, der Jahreskreis wird sich ja wohl nicht ändern, kommt ja der Herbst und mit ihm weniger Ablenlung durch Freibad und Beachbar.


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