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Montag, 30. August 2021

Abweichendes.

Beststellerautor Wolfram von Eschenbach kokettierte schon zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
mit seiner Abneigung gegenüber dem Medium „Buch“, denn Wahrheit und Bestand habe am Ende
doch nur das gesprochene Wort. Da war der Bleidruck zwar noch lang nicht erfunden, die
Vervielfältigung von Geschriebenem noch mühsame Handarbeit, doch der Minnesang-Influencer
zeigte sich bereits damals recht strukturkonservativ. Eine skeptische Haltung gegenüber
technischem Fortschritt hat eben eine gewisse Tradition, was den New-Age-Anarcho Robert Anton
Wilson sieben Jahrhunderte später dazu veranlasste, „den Menschen“ in eine grundsätzliche
Typologie von neophil und neophob einzuteilen. Technikfeindlich: Eine Schublade, in die ich
ungern gesteckt werde, wenn ich in Diskussionen für einen viel kritischen Umgang mit Digitalität
werbe. Passiert aber immer wieder. Und die Gemengelage im Cyber-Diskurs ist ja auch tatsächlich
unübersichtlich.
Zumal sich die Digitalisierung in pandemischen Zeiten als vermeintlicher Segen erweist, ihre
Verschleppung hingegen als politisches Versagen: Nachverfolgbarkeit, Warn-Apps und
Datenerfassung schützen Menschenleben und ermöglichen eine effektive Bekämpfung des
Infektionsgeschehens. Homeoffice, -schooling und -shopping erhalten die Vitalfunktionen unserer
Gesellschaft, nämlich Arbeit und Konsum. „Das digitalisierende Virus,“ heißt SARS-Cov-2
folgerichtig in der aktuellen Broschüre „DIVERGE!“ („Abweichen!“) des Redaktionskollektivs
Capulcu, die im Frühjahr bei Unrast erschienen oder als pdf über capulcu.blackblogs.org zu
bekommen ist.
Die wachsende Übergriffigkeit von Staaten und Konzernen in der digitalen Sphäre ist bereits seit
Jahren das Kernthema des Netzwerks „von technologie-kritischen Aktivist*innen und
Hacktivist*innen“ (Selbstdarstellung) - und Capulcu ist sich sehr wohl bewußt, hier in vermintem
Gelände unterwegs zu sein. Technologiekritik, gar „Maßnahmenkritik“: Da tummeln sich auch
zahlreiche Verschwörungsgläubige, Esoteriker/innen und sonstwie Rückwärtsgewandte. Eine klare
Abgrenzung ist daher nötig, und bereits im Vorwort wird diese auch geliefert. Das Anliegen der
Autor/innen ist unzweifelhaft emanzipatorisch; die Aufsätze in dem gut 180 Seiten starken Buch
zeigen deutlich, wo und wie gesellschaftlicher Regression sich als technischer Fortschritt tarnt. Ob
Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen oder bei der „Kriminalitätsbekämpfung“ eingesetzt
wird, bei der Unterdrückung des Widerstands gegen das autoritäre China in Hongkong oder zur
Errichtung technokratischer Scheinlösungen für die ökologischen Verwerfungen der nahen Zukunft:
Die thematische Vielfalt ist groß, die Analysen durchgehend lesenswert, zumal sich die wenigsten
Texte in enervierendem Szenesprech verheddern. Sandra Göbels „Horizonte überschreiten“ spannt
einen toll geschriebenen psychologischen und ideengeschichtlichen Bogen über die Jahrzehnte des
kybernetischen Denkens hinweg. Konkrete Handlungsvorschläge für Aktivist/innen und
Dokumentationen bereits stattgefundener Direkter Aktionen fehlen ebenfalls nicht. Extrem
lesenswert ist in diesem Zusammenhang der vollständige Abdruck eines Bekennerschreibens der
„Vulkangruppe shut down the power / Digitale Zurichtung sabotieren!“
Das pandemische Geschehen ist extrem dynamisch. Als „DIVERGE!“ erschien, rollte noch die
zweite Infektionswelle über Europa. Auf der Homepage des Kollektivs sind seither keine
Aktualisierungen dazugekommen, was ein wenig schade ist. Das macht den „technologischen
Angriff im pandemischen Ausnahmezustand“, so der Untertitel, nicht weniger relevant. Zumal die
Broschüre zeigt, dass ein libertärer Widerstand gegen die enorme Vielfältigkeit der digitalen
Entmündigungen möglich ist – in unmissverständlicher Abgrenzung zu Querdenkern, BILD und
braunem Gesocks.

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