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Sonntag, 28. Februar 2021

Individualität im Stresstest - Inhuman von Bajran/Mangin/Rochebrune


Nicht Mensch
- bereits in der Eingangssequenz zur jüngst erschienenen deutschen Ausgabe der SF-Graphicnovel Inhumain wird klar, dass die Mannschaft des Erkundungsschiffes aufgeschmissen wäre ohne Ellis, ihre androidische Begleiterin. Denn irgendwas auf dem Ozeanplanten, auf dem das Raumfahrzeug havariert, sendet noch während des Absturzes bewusstseinsveränderndes Mind Control in die Köpfe der kleinen Besatzung, die ihr Unglück und ihre wundersame Rettung durch freundliche Tentakelwesen als reine Poesie empfindet. Nur ein Robo-Kopf, der für soviel romantischen Überschwang per se unempfänglich ist, kann da rational und somit die letzte Hoffnung einer freien Menschheit bleiben.

Das Titelbild des großformatigen Hardcovers (bei Splitter) zeigt bereits, wie sich die Romantik im Fortgang des Szenarios fortsetzt: Kraftvolle und freundliche Eingeborene heißen die Raumfahrer in einer Art Südseeparadies willkommen. Dass bei soviel Idylle etwas nicht stimmen kann, zeigt sich schon, als der Kollege, der es leider nicht überlebt hat, rituell im Kochtopf endet. Kannibalen also! Um das Klischee abzurunden, müssten die Ankömmlinge nur noch als Götter verehrt werden... Genau das aber passiert nicht. Ferngelenkt wie auf Drogen in der exakten Einhaltung ihres Tagesablaufs, der aus Arbeiten, Essen und Fortpfanzung besteht, weil der große Hüter das so will. Nachforschungen ergeben, dass das vulkanische Atoll eine Unterwelt hat, in der weitere Völker leben und ebenso stumpf den Pflichten nachgehen, die jener große Hüter ihnen auferlegt hat, damit das komplexe Räderwerk einer gigantischen Maschine aufrecht erhalten wird, die dieses Inselchen nämlich eigentlich ist. Nur wozu? Wer ist der große Hüter? Und warum verfällt ein Crewmitglied nach dem nächsten bereitwillig der unerklärlichen Gehirnwäsche, die die Menschen hier - anscheinend vor Generationen havarierte Erdlinge - so hartnäckig entmenschlicht? Ellis (der Name ist sicher kein Zufall) muss tief in das Wunderland der Insel-Unterwelt hinabsteigen, bis sie auf Widerständler und den Kern des Geheimnisses trifft, dass diesem höllischen System zugrunde liegt. Thibaud de Rochebrune fängt diesen Trip in atemberaubenden Panels und einer hypnotischen Farbdramaturgie ein; Denis Bajram und Valérie Mangin als Szenarist/innen erzählen eher eine philosophische Fabel als ein Weltraumabenteuer. Die Frage, die Inhuman uns stellt, ist angesichts der aktuellen Pandemie auch nicht wohlfeil, sondern wird dieser Tage heftig diskutiert: Individuelle Selbstentfaltung ist es nämlich laut Ellis, der Robofrau, was den Menschen zum Menschen macht, nicht die Unterordnung unter ein allgemeines Ziel. Das gilt auch (und vor allem) dann, wenn dieses Ziel von einer (manipulierten) Mehrheit als sinnvoll erachtet wird und der Eigensinn nur duch Ausgrenzung und Schmerz aufrecht erhalten werden kann. Mag das im westlichen Denken unseres Jahrhunderts bis vor wenigen Monaten noch Konsens und somit trivial gewesen sein, lässt der Blick auf die unterschiedlichen Strategien, das Corona-Virus zu bekämpfen, auch kollektivistische Lebensweisen in einem anderen Licht erscheinen. Kurioserweise könnte im März 2021 auch ein Querdenkender auf seiner Hygienedemo mit diesem Comicband herumwedeln. Das war bei Veröffentlichung des französischen Originals sicher noch nicht absehbar. Ich aber bin begeistert von soviel Aktualität und Zündstoff angesichts einer Debatte, eines öffentlichen Ringens um freiheitliche Werte, das uns dank kommender globaler Krisen noch lange beschäftigen wird. 

Zu meckern bliebe vielleicht, dass Mangin und Bajran das Geheimnis um den großen Hüter viel zu vollständig und formal leider etwas konventionell auflösen. Auch hängt hier und da eine Wortwahl, ein Dialog etwas schief, was aber auch der Übersetzung geschuldet sein mag. Geschenkt. Auf ihrer Reise in den Untergrund löst die künstliche Haut von Androidin Ellis sich mehr und mehr auf. Was darunter sichtbar wird, sind weder Hydraulik noch Glasfaserkabel, sondern menschliche Muskulatur wie aus dem Anatonmiebuch. Eine rätselhafte Metapher in einer rätselhaften, gut erzählten Geschichte.


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