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Sonntag, 2. August 2020

In den Wäldern mit T.C.Boyle

"Die Bullen sahen aus wie die Idioten, die sie waren - große, starke Männer mit großen, starken Waffen -, aber obwohl alle verfügbaren Kräfte aus zehn Sheriffbezirken zusammengezogen worden waren, schafften sie es nicht, einen fünfundzwanzigjährigen Waldläufer zu jagen, der der örtlichen Wirtschaft einen Pfahl ins Herz gestoßen hatte und den Steuerzahlern eine solche Angst einjagten, dass die keinen Schlaf mehr fanden."

Tom Coraghessan Boyles 400-Seiten-Roman Hart auf Hart erschien 2015 und erzählt die Geschichte des jugendlichen Außenseiters Adam, dessen innereres Rad sich immer zu schnell dreht. Der sie verweichlichte Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen ist, aus tiefstem Herzen verachtet. Der, um sein Leben in den unermeßlichen Redwood-Wäldern zu finanzieren, auf archaische Weise Opium produziert - viel braucht er nicht. Der den Verlust seiner Goßmutter nicht verkraften kann. Der immer ein Gewehr bei sich trägt, weil er von Feinden umzingelt ist; und der ficken kann wie ein wildes Tier. Adam ist eine unglaublich vielschichtige, aufregende Romanfigur - und T.C. Boyle ist ein Meister der Erzählkunst. Hart auf Hart ist der zweite Roman, den ich von ihm lese. Eine persönliche Empfehlung, nachdem ich Das Licht soweit ganz ordentlich, aber nicht überragend fand. Nun will ich aber auch eines seiner Frühwerke auf meine Leseliste setzen und freue mich über Tipps!
Adam also, der sich selbst nach einem amerikanischen Trapper und Wildwest-Pionier Colter nennt und eine Liaison mit Sara eingeht, einer freiberuflichen Tierpflegerin in ihren Vierzigern. Die liegt ebenfalls mit den staatlichen Autoritäten über Kreuz, kennt die amerikanische Verfassung und ihre erodierenden Freiheitsrechte  auswendig und hat auf jemanden wie diesen schweigsamen, entschiedenen Kerl nur gewartet. Als das ungleiche Paar Saras Hund, der eine Polizistin gebissen hat, aus der Zwangsquarantäne befreit, funkt es zwischen den beiden - der Nevernkitzel der Rebellion ist der Auslöser für eine leidenschaftliche Affäre. Und dann sind da noch Stan und Carolee, Adams Eltern. Stan ist Kriegsveteran und kann dank seiner Eliteausbildung gleich zum Auftakt des Romans seine Lateinamerika-Rentner-Reisegruppe aus einem Hinterhalt befreien. Die öffentliche Anerkennung ist groß, und seine Gewissensbisse halten sich in Grenzen - Stan hat ja in Notwehr getötet, und auch "nur" einen Latino.
Boyle führt seine Leser*innen also tief in das Denken des konservativen Amerika. Ein Amerika, daß uns Europäern durch die Präsidentschaft Trumps vertrauter geworden ist, das uns mit Blick auf die Weltpolitik auch zunehmend etwas angeht. Die Protagonistinnen und Protagonisten des Romans handeln und denken zwar unterschiedlich radikal, doch daß Amerika schon lang nicht mehr das Land of the free und eine gesetzliche Krankenversicherung im Grunde sozialistisch ist, daß die Mexikaner und die Drogenkriminalität, die mit ihnen ins Land schwappt, ebenso wie die Bürokratie das Ende der amerkanischen Idee darstellt und die Moderne an sich einen falscher Weg, daran besteht für keine der 3 tragenden Figuren (plus Colter, dessen legendärer Run in bester Spannungsroman-Manier als Geschichte in der Geschichte erzählt wird) ein grundsätzlicher Zweifel.

Boyle entwirft ein eindringliches Psychogramm eines Amokläufers, dessen Ideal der individuellen Freiheit in einer organisiserten Staatswesen nur scheitern kann. Er schildert ebenso überzeugend die von Rassismus und Frust getränkte Gesellschaft, die den Nährboden für Adams Paranoia bietet. Doch The harder they come, so der Originaltitel,  kommt niemals überheblich, lehrbuchhaft oder gar holzschnittartig daher. Die Figuren des Romans sind lebendig, liebevoll und differenziert gezeichnet und lassen mir als Leser ausreichend Raum für Empathie und Indentifikation. So ist das Buch auch eine aufregende innere Reise in ungewohnte Denkmuster, die in ein grandioses, nervenaufreibendes Finale münden. Da wird der nüchtern-lockere Sprachduktus des Autors zum Ende hin auch treibend, atemlos und wahnhaft; eine wahre Freude, so etwas Gutes lesen zu dürfen. Und die mitgelieferte Liebesgeschichte ist nicht weniger anrührend und absolut ungewöhnlich.


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