Zu Beginn dieses Jahres in deutscher Übersetzung bei SPLITTER erschienen, ist Das Reich Azur von Autor Xavier Dorison und Zeichner Joel Parnotte der erste Teil einer auf vier Bände ausgelegten Comicreihe: Aristophania. Was hat mich zugreifen lassen? Das Splitter-Regal in meinem Comic-Laden hat ja mittlerweile gigantische Ausmaße - doch das Cover war schon der erste Eyecatcher: Der Jugendstil-Schriftzug und das in geheimnisvollem Grün gehaltene Titelbild einer schwebenden Frauengestalt stachen heraus. Dorison war mir auch als Co-Autor von Christophe Becs Heiligtum und als Verfasser der erfolgreichen Reihe Undertaker (selbst aber noch nicht gelesen) ein Begriff.
Daheim las ich ein paar Artikel zum Buch und war zunächst etwas entsetzt. Von Mary-Poppins-Charme war da plötzlich die Rede... ein Fehlkauf? Zum Glück nicht. Daß eine Dame aus gutem Hause mit exellenten Manieren und guten Flugeigenschaften Kinder unter ihre Fittiche nimmt, ist dankenswerterweise die einzige Parallele zu Disneys biederem Kitschmärchen. Die Fabelwelt, der die titelgebende Gräfin entstammt, ist sehr viel komplexer, und auch wenn Dorison in diesem ersten Band nur einen winzigen Zipfel des Vorhangs lüftet, ahne ich eher eine an Neil Gaimans Niemalsland gemahnende, düstere Hintergrundgeschichte.
Der verantwortungsvolle, aber aufbrausende Basile, sein hochintelligenter aber lebensuntüchtiger kleiner Bruder Victor und die neunjährige Calixe sind Geschwister in einem Armenviertel in Marseille zur Zeit der Frühindustrialisierung. Ihr Vater kam vor einigen Jahen unter ungeklärten Umständen ums Leben - wir Leser haben aber bereits in der Eingangsszene erfahren, daß hier ein Konflikt zwischen übersinnlichen Mächten den Hintergrund bildet. Als ihre rebellische Mutter in einem polizeilichen Willkürakt verhaftet wird, kommt eine alte Bekannte ihres Vaters ins Spiel: Die Gräfin Aristophania. Sie siedelt die Kinder aus den elendigen Marseiller Verhältnissen auf ihr Anwesen in der Provence um. Und die Provence ist auf einmal das Reich Azur. Der Begriff Azur scheint aber auch so etwas wie Lebensenergie und magisches Talent zu bezeichnen. Und Hals über Kopf finden sich die Kinder in einer Welt voller Magie und Gefahren wieder.
Auch wenn ich dem ersten Band der Reihe noch wenig Konkretes zur Handlung zu entnehmen ist, gelingt es dem Autor, Spannung und Atmosphäre aufzubauen - trotz der eher konventioneller Fantasy-Kost, die er serviert. Die tiefen, opulenten und datailverliebten Bilder Parnottes sind das eigentliche Plus des Comics. Seine entschiedene Farbgebung, seine eindringlichen Schraffuren, die differenzierte Charakterdarstellungen und seine einfache und trotzdem sehr erwachsene Bildsprache überzeugen mich sowohl im rötlich-grauen Marseille als auch in der durch vielerlei Grün verlockenden Provence auf ganzer Linie. Dieser Tage soll der Nachfolgeband Der verbannte König erscheinen, und ich werde wohl schon bald schreiben können, wie es weitergeht - die Gräfin hat mich angeködert!
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