"Aber das ist doch lächerlich! Wir haben dieses Anwesen gemietet. Wir sind Wissenschaftler!" - Doch irgendwie war es eher diese Behauptung, die lächerlich war, denn schließlich kam sie von einer barfüssigen Frau in Bikini. In diesem Augenblick erkannte Joanie die Wahrheit: Sie waren tatsächlich lächerlich, und alles woran sie glaubten und wonach sie strebten, war lächerlich, jedenfalls in den Augen der Obrigkeit und ihrer Handlanger, die eine Welt regierten, in der der menschliche Geist verschlossen war und man immer bloss dasselbe wollte, nur mehr davon." (T.C. Boyle - Das Licht)
Gut zwei Jahre ist es mittlerweile her, da konnte und wollte ich mich nicht mehr vor der Lektüre von "Illuminatus!" von Robert Shea und Robert Anton Wilson drücken, jener uferlosen Trilogie, die für viele heute gängige Verschwörungsmythen um die Geheimgesellschaft der Illuminaten oder die Zahl 23 erst den literarsichen Grundstein legte. Meine Lesereise in den phantastischen Kosmos des RAW (wie seine Fans den Playboy-Redakteur und Diskordianischen Papst Robert Anton Wilson nennen) war tatsächlich kein Spaziergang; ein ausführliches Leseprotokoll und ein disziplinierter Zeitplan waren nötig, um "Das Auge in der Pyramide", "Der goldene Apfel" und "Leviathan" durchzuackern und nicht den Überblick über die zahlreichen Figuren und Handlungsebenen zu verlieren, die teils völlig unvermittelt im Nirgendwo enden und von denen ich nie wußte, ob sie nochmal wichtig werden, so wichtig bleiben wie es momentan den Anschein hat oder überhaupt nochmal eine Rolle spielen. Grund für den Wirrwarr ist die Entstehungsgeschichte des 70er-Kultromans: Wilson und Shea bearbeiteten die Leserpost des legendären Herrenmagazins und sahen sich immerfort mit allerlei kruden Verschwörungstheorien konfrontiert, die sich um die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, aber auch auf die Hippie-Bewegung und ihre prominenten Akteure (wie unter anderem Tim Leary) bezogen. Ausgehend von nicht mehr als einer schwamming definierten Basiskonstrution (was wenn das alles wahr wäre) begannen die Kollegen eine Art schriftstellerisches Improvitations-Battle nach dem Motto: "Wetten, daß du das nicht mehr toppen kannst?" Oh doch, sie konnten, und daß es am Ende von "Leviathan" überhaupt zu sowas wie einem Abschluß kommt, mutet nach all dem Wahnsinn, der manchmal eine Freude, manchmal eine Plackerei zu lesen ist, schon wie ein kleines schriftstellerisches Wunder an. Die zeitgenössische Kritik ging dementsprechend harsch mit dem Ergebnis um, als es nach langer Suche einen Verlag gefunden hatte: "Eine anmaßende Imitation von Literatur" ist eine Stimme, die es besonders auf den Punkt bringt (deren Quelle ich grad nicht rekonstruieren kann, weil ich die zitierende Website nicht mehr finde) - im Guten wie im Negativen. Denn Shea und Wilson sind keine seriösen Literaten und wollten auch nie welche sein, sie waren Clowns oder Gremlins oder Scharlatane mit einer Mission, der weltweiten Operation Mindfuck. "ALLES ist irgendwie falsch oder unwahr oder bedeutungslos. Wenn du das 666 mal wiederholst, bist du erleuchtet." Zen, Pop, Drogen, Esoterik, Anarchismus und eine kindlich-formlose Fabulierlust haben der Welt mit dem Roman um Hagbard Celine und seinem Kampf gegen den uralten Bund der Illuminaten ein Werk vor die Füße gelegt, daß bestens in die Zeit paßt, in der es entstand. Adepten, Theorien, Mafiosi, Atlantis, ein sprechender Delphin, ein goldenes U-Boot sind auch heute noch ein strapaziöser, aber äußerst ergiebiger Read.
Und weil es so schön war, hab ich gleich noch mehr Bücher von Wilson verschlungen. Das Lexikon der Verschwörungstheorien, die jeweils ersten Bände der Trilogien "Schrödingers Katze" und "Cosmic Trigger", mehrere Essaysammlungen und auch das informative "Prometheus Rising", das sich mit der Lehre und Gedankenwelt von RAWs Freund Timothy Leary beschäftigt und seine eigenen, eher künstlerisch motivierten Entwürfe von Realtätstunneln und Mindfuck in ein praktisches Übungsprogramm einfließen läßt, daß den Konsum bewußtseinserweiternder Drogen zwar nicht ausschließt, aber diesen auch nicht voraussetzt, um seine Programmierungen zu durchbrechen.
Leary, Psychologe und Harvard-Dozent, experimentierte mit Psylocibin und vor allem LSD und machte ein hohes therapeutisches Potential in der Droge aus. Mit dem Ziel, sich schließlich von sämtlichen bürgerlichen Konventionen ("Spielen") lösen und die negativen Programmierungen durch Kindheit und Gesellschaft nivellieren zu können, werde der gezielte Einsatz halluzinugener Substanzen einen Durchbruch erzielen, der in letzter Konsequenz die gesamte Menschheit von Unterdrückung und Krieg befreien würde. Das Age Of Aquarius stand vor der Tür, und je mehr sich Leary, seine Mitstreiter im akademischen Betrieb und seine Studierenden in ihren Zusammenkünften von der reinen Wissenschaft entfernten, je mehr die Gemeinschaft um den "inneren Kreis" und ihren Guru sektenhafte Züge annahm, desto mehr Anfeindungen und staatlicher Repression sah sich die Gemeinschaft ausgesetzt. 1965 wurde Leary wegen Drogenbesitz zu 30 Jahren Haft verurteilt, seine akademische Karriere war da schon zu Ende. 1975 kam er frei, seine Popularität im alternativen Milieu blieb. Er schrieb und engagierte sich politisch, 1995 starb er an Prostatakrebs; sein Freund Robert Anton Wilson lebte bis 2007.
In T.C. Boyles jüngstem Roman "Das Licht" (Outside Looking In) von 1919 spielt RAW aber noch keine Rolle, es beleuchtet die Jahre 1962-64, als Learys Forschungen Fahrt aufnehmen, der Bruch mit der akademischen Welt aber noch passieren wird und die Beatles gerade erst ihren Durchbruch erleben. T.C. Boyle ist mir als bedeutender Romancier durchaus ein Begriff gewesen, gelesen hatte ich aber noch nie etwas von ihm. Ich wußte, daß er ein Irving-Schüler war, und dessen dicke realistische Erzählungen eigenen sich zwar prima für Verfilmungen, haben mich aber als Leser, wenn immer ich es mit ihnen aufnahm, nicht so richtig begeistern können. Auch die Nähe in den Verkaufsregalen zu Thomas Pynchon, Kurt Vonnegut und anderen amerikanischen Großschriftstellern haben mich immer denken lassen, aha, bestimmt klasse, gern ein andermal - zu mahnend stehen deren ziegelsteindicke Werke (oft nur) halbgelesen bei mir im Regal. Aber wo ich schonmal so gut im Thema bin und das psychedelische Cover recht ansprechend aussieht, nehme ich mir meinen ersten T.C.Boyle jetzt mal mit nach Hause.
Das Zögern war dann auch ziemlich unbegründet, muss ich feststellen. Boyles Stil ist kein bißchen verquast, seine Figurenzeichnung ist klar und sensibel, die Situationen verständlich und, was den Roman wirklich zu einer schönen Leseerfahrung macht, die inneren Widersprüche und Nöte der Figuren sind jederzeit beinahe körperlich spürbar. Fitz und Joanie Loney sind nach einer frühen ungewollten Schwangerschaft junge Eltern mit wenig Geld. Joanie jobbt als Bibliothekarin, Fitz versucht sein Psychologiestudium in Harvard mit einer Dissertation abzuschließen, ein Stipendium hält die junge Familie knapp über Wasser. Da ist es für Fitz eine Ehre und eine Chance, in den inneren Kreis um Prof. Leary zu rutschen, dessen Partys voller Jazzmusik und Alkohol schon jetzt einen legendären Ruf genießen, lange bevor es zu den rituellen Ausgaben des Sakramentes LSD kommt. Dank einer galaktischen Liebesnacht auf Psylocibin ist auch Joanie für Tims Ideen zu begeistern, und ein Trip der gesamten Gruppe aus Wissenschaftlern, Studenten, ihren Partnerinnen und Kindern in ein mexikanisches Hotel gerät für die gesamte Familie zu einem gelungenen Befreiungsschlag aus jenen Zwängen und Konventionen, die Joanie, Fitz und Sohn ihr kleines prekäres Leben so sauer machen.
Was nun kommt, ist recht vorhersehbar: Kein Paradies ist für die Ewigkeit. Nach dem Umzug der entgrenzungsfreudigen Clique in ein Herrenhaus in Millbrook werden die sexuellen Ausschweifungen schal, die allumfassende Erkenntnis des göttlichen Lichtes bleibt trotz höheren und immer höheren Dosen der Droge trotzdem versagt, das Geld wird knapp und zwingt die Community zur kommerziellen Verwertung ihrer Entgrenzungsangebote, die vernachlässigten Kinder machen ihr eignenes Ding und wiederholen die Fehler der Eltern. Finanzielle Probleme kommen dazu, und als Fitz dann auch noch einer verwirrten 19jährigen Lolita verfällt, zerlegt der ausgeträumte Traum zuerst die Kleinfamilie und offenbart dann schließlich die gesamte Traurigkeit des gescheiterten Unterfangens, die erlernten Egoismen aufzugeben und in einem universellen Bewußtsein aufzugehen.
Trotz dieser Vorhersehbarkeit habe ich "Das Licht" gern gelesen. Auch wenn Boyles schlichter, fast dokumentarischer Stil zwar nicht gerade psychoaktives Potential besitzt (er ist so ziemlich das Gegenteil von Illuminatus!), ist er doch geschliffen, ausgewogen, sprachlich schön. Ein perfekt sitzender Anzug, trotz allen Dramas nicht ohne Humor. Die inneren Kämpfe, die Selbstzweifel, die Euphorie der Beteiligten vermittelt sich schnörkellos und überzeugend, wirklich gekonnt. Wenn Joanie sich in mütterlicher Verzweiflung im verschneiten Garten verläuft, wenn Fitz das Objekt seiner Begierde erst mit einem Affen verwechselt und dann die Demütigung erduldet, nicht wie ein solcher klettern zu können... So bittere Niederlagen, und sie haben mich als Leser tief ins Mark getroffen nach all der Hippie-Idylle. Überhaupt, dieser Affe - bis zu seinem jämmerlichen Ende zeigt er den Lichtsuchern, wer sie eigentlich sind. Und dann hat es sich ausgesucht.
Mal rumhören, was so als der beste Boyle gilt, und einen zweiten lesen. Vielleicht war sein Stil in jüngeren Jahren auch etwas rougher, der Herr ist ja jetzt auch schon 70. Angesichts dessen ist "Das Licht" zwar ein wenig zu ordentlich für meinen Geschmack, aber von so alten Herren ist man sonst Schlimmeres gewöhnt.
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