
Übrigens habe ich später auch einen Gedichtband, eine Kurzgeschichtensammlung und die Berlin-Romane "Flieh mein Freund" und "Hitze" gelesen. Da diese bei mir aber nicht in gleichem Maße zündeten wie "Stier" oder "Milch und Kohle", habe ich den Autor aus den Augen verloren. Die Welt der Literatur ist unübersehbar groß, aber meine Zeit hat ihre Grenzen. Nun also "Stier", mal gucken, ob der noch genauso reinhaut wie früher. Und ich kann ganz klar sagen, er haut doppelt rein! Ich bin ja auch schließlich fast doppelt so alt wie damals, und da "Stier" das ist, was wir uns eine Coming-Of-Age-Geschichte zu nennen angewöhnt haben, sehe ich die Geschichte des jugendlichen Helden Kai Carlsen aus größerer Distanz, aber auch mit größerem Verstehen. Damals steckte ich ja bis zur Halskrause selber drin.
Die Geschichte des Mauererlehrlings, der Befreiung aus seinen miefigen kleinbürgerlich-proletarischen Lebensverhältnissen erst in der Drogendisco "Blow Up" und später in einer Wohngemeinschft findet, die in einer Bruchbude voller Mauerrisse (Bergschäden) haust, hat sicher auch eine Handvoll autobiographische Bezüge. Neben einer etwas überflüssigen Rahmenhandlung gliedert sich der Roman in drei klare Teile: Das enggeistige Leben auf der Baustelle, die Suche nach Freiheit im Aussteiger-Milieu und schließlich der Job im Krankenhaus. Dieser dritte Teil ist bei weitem der ergreifendste, denn der schöne Trug, "daß das Leben leicht sei", bricht hier in einer bitter-garstigen Groteske um das Herunterkommen und Sterben vollends in sich zusammen. Schon von Anfang an - hier überzeugt Rothmanns Erzählkunst auf ganzer Linie! - ist in die Suche nach Lebenssinn, nach Schönheit, Wildheit, Freiheit immer schon das Scheitern, aber auch ein verrotztes Trotzdem eingepreist. Rothmann schreibt sehr literarisch, schlägt einen manchmal fast poetischen Ton an, was angesichts des Milieus, das er schildert, eine interessante Reibung ergibt. "Stier" war sein erster großer Roman, und manch eine Wendung klingt noch etwas eitel, wo andere bereits originell und treffend sind. Die Kneipenszene, in der Dyonisos und Apollon aufeinandertreffen, ist lehrbuchhaftes Malen nach Zahlen, wo die Szene in der Pathologie, das Ringen mit der unerfülten Liebe und den Toten, voll tiefer Komik, Tragik und Überraschungen steckt. Diese künstlerische Unausgewogenheit fordert eine Romanfigur sogar passenderweise selbst ein, als sie sich über James Joyce ausläßt, dessen Ulysses kein "Gesang aus freier Lunge" sei. "Stier" hingegen ist ganz sicher ein solcher, wenn auch mit gelegentlich schiefen Tönen - geschenkt. Sicher ist Rothmann heute stilsicherer geworden, und ich werde mir bei Gelegenheit gern mal ein aktuelles Werk vornehmen. Daß dieses hier ein grandioses Buch ist, in dieser Meinung sehe ich mich auf jeden Fall erneut bestätigt. In 25 Jahren gerne wieder!
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