Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 17. August 2021

Grins: Sommerferien!

 

Stolz wie Oskar - meine Widmung!
Gegrinst wird gern und ausgiebig im Groschenheft: Der Held grinst verlegen, als er sich zur Seite dreht – hat er doch die Heldin beim Bade überrascht. (Es folgt mit 98%iger Sicherheit eine Beschreibung ihrer i.d.R. „straffen“ Brüste.) Der Held kloppt trotz der aussichtslosen Situation einen flotten Spruch, begleitet von einem ungeholfenen Grinsen. Der Böse grinst ohnehin, meist hämisch oder diabolisch. Aber auch schmierig, schelmisch, verschwörerisch, lüstern, dämlich, trocken oder lediglich angedeutet wird gerne mal „das Gesicht zu einem Grinsen verzogen“, und in zweispaltig gedruckter Bahnhofsliteratur findet das auffallend häufiger statt als bei Suhrkamp und Co. Macht seine inhaltliche Elastizität diesen Gesichtsausdruck, unspezifisch wie er nun mal ist, zur bei Heftromanautor/innen so beliebten Stereotype? Sagt ein plumpes Grinsen am Ende ebenfalls mehr als tausend Worte, gleichwie seine hübschere Schwester, das Lächeln? Das spart dann ja auch Menge Platz im Heft.

Wie auch immer die Antwort lautet: Es ist schon ziemlich Meta, wenn Ganoven-Heinzi in der Kurzgeschichte Die Großen Alten würfeln nicht das im Zug vergessene Westernheftchen einsteckt – mit einem Grinsen! Diese kleine Inbesitznahme wird das Leben des Kleinkriminellen verändern, und wer Das Vexier von Vettseiffen gelesen hat, weiß auch, in welche bizarre Richtung die Lebensreise nun geht.

Die Großen Alten würfeln nicht von Ina Elbracht ist nicht der einzige Höhepunkt der zweiten Ausgabe von Cthulhu Libria Neo, einem ansehnlich dicken Weird-Fiction-Magazin bei BLITZ mit Anspruch und Vorgeschichte. Dem Schwerpunktthema Horror in Eisenbahnen gewidmet, erreicht zwar nicht jede Story das gleiche erzählerische Niveau, aber auch Der Ingenieur von Amalia B. Edwards und Die wahren Hintergründe des Unglücks am Gare Montparnasse von Markus Müller sind ziemlich gelungen. Eher trashig, das aber beeindruckend konsequent und daher ebenfalls extrem unterhaltsam ist Christopher Müllers Höllenzug. Fast interessanter als die meisten Shorts sind aber die Sachtexte, allen voran ein Betrachtung zu einem historischen Eisenbahnunglück, an dem Charles Dickens beteiligt war. Geschrieben hat diese spannende Analyse Thorsten Scheib, der ja auch gelegentlich ne Leserstory zur Heftromanserie meines Vertrauens raushaut. Auch Silke Brandt bin ich dankbar für den ausführlichen Einblick in das Schaffen von Stefan Grabinski, einem Autor, den ich bisher noch nicht auf dem Radar hatte, der sich aber wirklich interessant ausnimmt. Ganz schön üppig ist das Teil, und u.a. von Herausgeber Jörg Kleudtgen liebevoll illustriert. Da bin ich geneigt, die etwas zu häufigen Fehler im Drucksatz zu übersehen. Ich kreide dem Magazin aber dennoch an, dass es sich zu sehr im Nostalgischen suhlt, statt seine Tentakel auch mal in den Eisenbahnhorror der Gegenwart auszustrecken. Da gibt es doch sicher noch mehr Schröckliches zu entdecken als bloß Unpünktlichkeit und die Preise im Bordbistro. A propos, beruflich zog es mich zu Beginn der Sommerferien noch auf nen Abstecher in die Hauptstadt, und ich habe von meinem Urlaubsort aus (Nähe Nürnberg) alle Anschlüsse bekommen und auch sonst nix an der Deutschen Bahn AG zu meckern!

Dafür hatte ich in Berlin jede Menge Zeit, die ich als Puffer für die schon schicksalsergeben erwartete Verspätung eingeplant hatte. Wie sie totschlagen? Erfreulicherweise veranstaltete ein Comicladen in Kreuzberg eine Signierstunde mit Ralf König, die wunderbar in mein Zeitfenster passte. Seine Lucky-Luke-Hommage „Zarter Schmelz“ erschien just an jenem Wochenende, ist mega-mega-lustig und ich besitze ausserdem jetzt ein schönes Hardcover mit persönlicher Windmung, das mir die Rückfahrt über beste Laune bereitet hat.

Comics also habe ich auch einige gelesen, Liste siehe unten. Dieser Sommer sollte aber vornehmlich der Sommer der kurzen Form sein, so mein Vorhaben. Grund waren zahlreiche Bände mit Short Stories, die sich, ungelesen oder nur kurz durchgeblättert, neben meinem Kopfkissen zu einem mahnenden Turm angehäuft hatten und ihre Aufmerksamkeit fordeten. Teils druckfrisch, teils antiquarisch erworben. Doch ehe ich nach der Lektüre von Horror in Einsenbahnen dieses Vorhaben mit der unglaublich guten Mini-Novelle Klub Tropikal, ebenfalls von Ina Elbracht, fortsetzen konnte, schoben sich doch noch kackfrech zwei Romane dazwischen. Wetter war ja beschissen genug zum Viellesen.

Das 150-Seiten-Gedankenspiel Die nackten Wilden von Michael Lorenz aus dem Jahre 1982 und Chuck Palahniuks Romanerstling Fratze, im Original Invisible Monsters von 1999. Palahniuk ist mit der Romanvorlage zu Fight Club mit Brad Pitt und Edward Norton in den Hauptrollen bekannt geworden, meiner Meinung nach einer der großartigesten Filme, die ich überhaupt je gesehen habe. Die Folgeromane Der Simulant und Flug 2039, die ich im Nachgang gelesen hatte, habe ich zwar als ganz okay in Erinnerung, sie konnten aber meiner Begeisterung für den Autor keine zusätzliche Nahrung geben. Die Mängelexemplar-Bücherschütte im KODI offerierte mir nun pünktlich zum Sommeranfang Fratze für läppische 1,99 Euro. Ich kann mir nicht genug für diesen Impulskauf Schulter klopfen, das Teil ist wirklich klasse! Zwar hat Palahniuk als übereifriger Debütant das Ende des Romans mit einem Twist zuviel überfrachtet, das schmälert Gesamterlebnis aber kaum. Die Story um das Ex-Model Shannon mit dem weggeballerten Gesicht ist eine brutal komische Anti-Heldenreise. Es geht dabei irgendwie, sehr amerikanisch, um Selbstwerdung, Selbstverwirklichung und Selbstentwurf. Doch all das so verdreht, so böse und lustvoll zynisch, dass die altbekannte Geschichte in Palahniuks Zerrspiegel menschlicher und anrührender erscheint als vieles andere, das menschlich und anrührend sein will. „Was ich tun muss – einen so großen Scheiß bauen, dass ich mich nicht mehr retten kann,“ sagt Shannon. Und das tut sie dann auch. Furios! Dagegen hatte es Michael Lorenz mit seinem etwas angestaubten Gedankenexperiment natürlich schwer, anzustinken. Aber auch Die nackten Wilden war immerhin nett zu lesen, wenngleich seine Motive (friedliche Naturmenschen vs destruktives abendländisches Denken) auch in einem auf SF gepimpten Setting nicht gerade taufrisch daherkommen. Bemerkenswert immerhin, wie ernsthaft sich die deutsche Science Fiction der 80er an den Ökologiethemen der Zukunft abarbeitet, die jetzt, 30 Jahre später, Gegenwart werden. In diesem Sommer, in aller Brutalität, und das nicht nur in fernen Ländern.

Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist da Arcane, das Helmut Wenske und Wolfgang Jeschke für das legendäre Hyene Science Fiction Label herausgaben und einige Autoren (gendern hier überflüssig) der Autoren der versammeln, um inspiriert von den surrealistischen Collagen des US-Künstlers Harry O. Morris jr., Erzählungen beizutragen. Man merkt dem dystopischen Buch die Zeit des kalten Krieges, die Zeit der ersten Warnungen vor einem Klimakollaps deutlich an. Vielleicht ist exakt in dieser Zeit der Bruch von einer positiv-utopistischen hin zu einer besorgt in die Zukunft blickenden SF zu suchen, wie sie heute nahezu die Regel ist. Indes: Gut die Hälfte von Arcane steht aber noch aus, und auch von Ray Bradburys Der illustrierte Mann (1951) habe ich nicht alles lesen können. Die Stories der Sammlung sind überwiegend gut gealtert, Der lange Regen und das melancholische Der Raumfahrer sind auch 70 Jahre später noch wahre Sahnestücke. Und aus dem Grossen Buch der Erotischen Phantastik, 1984 bei Bastei Lübbe erschienen, habe ich gar nur eine Erzählung geschafft. Die aber hat es in sich: Der Spanner von Harlan Ellison findet zwar aussschließlich in der Psyche zweier Menschen statt, erzählt aber so beklemmend und brutal von sexueller Ausbeutung und Rache, dass mir die Spucke weggeblieben ist. Eine Edition von Ellisons Short Stories steht bereits seit längerem auf meinem Wunschzettel, jetzt ist sie fällig!

Die drei Fabelhaften Geschichten von J.R.R. Tolkien verbreiten übrigens deutlich bessere Laune. Das dünne, phantasievoll illustrierte Taschenbüchlein bietet mit Bauer Giles von Ham ein zauberhaftes Kunstmärchen voller Witz und Poesie, überaus britisch erzählt. Giles von Ham schließt Bekanntschaft mit einem Drachen und wird schließlich König, das hat nicht annähernd die überladene Wucht vom Herrn der Ringe und erinnert in seinen geschmeidigsten Momenten an Oscar Wilde. Der Schmied von Großholzingen fängt ähnlich sophisticated an, mündet aber in einem assoziativen, schwer zu entwirrenden Traumgespinst, während Blatt von Tüftler eher eine Satire auf den Kunstbetrieb sein könnte. Hab ich sehr sehr gern gelesen, das Buch.

Auch kurz, aber non-fiction: Der – hm, Essay-Band Ein bisschen schlechter von Michel Houllebcq, topaktuell auf den Bestsellerlisten und eine vom Dumont-Verlag aufgeblasene Sammlung von Interviews und kurzen Textchen aus verschiedenen Zeitschriften und Austellungskatalogen, die Essays zu nennen ich schon reichlich vermessen finde. Indes: Der melancholisch-zynische Sound des Kettenrauchers macht immer wieder Spaß (sic!) zu lesen, und die titelgebende Betrachtung über die Auswirkungen der Pandemie auf unser gesellschaftliches Leben ist wirklich bitter und von gewohnter Qualität. Houllebecq begegnet den transformatorischen Erwartungen mit einem nüchternen: „Im Gegenteil, alles wird genauso bleiben wie es war. (…) Wir werden nach der Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt erwachen; es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.“ Wir haben die Utopien, die wir verdienen, und die Vereinsamung schreitet voran.

Ein (überraschend) melancholischer Grundton durchzieht auch die Novelle Klub Tropikal von Ina Elbracht. Oder nistet dieser Sound bloss in meinem inneren Ohr, ist ein Nachhall von Houllebecq, dessen Tourismusroman Plattform mich seinerzeit (15 Jahre ist das sicher her...) aufs Heftigeste beeindruckt hat? In Klub Tropikal geht es ebenfalls um einen Touristenort. Irgendwo in der struppigen Hitze einer griechischen Insel hat die Protagonistin dieser wundersamen Erzählung Familienangelegenheiten zu erledigen: Vaters letzer Wille war es, die Pacht einer Grabstätte zu verlängern. Eine Formalie, die man sich doch mit ein wenig Familienurlaub versüßen kann – bis die Geister einer rätselhaften Vergangenheit sich Bahn brechen, sich Mann und Tochter auf merkwürdige Weise entfremden und die verdrehte Zeit (oder der Wahnsinn?) wie ein langsamer, aber beharrlicher Mahlstrom aus Treibsand das Mittelmeeridyll in eine sanfte Hölle verwandelt. Ina Elbracht hängt die unterschiedlichsten Bilder und Motive in ein empfindliches Mobilé und bläst behutsam hinein, das Ergebnis ist ein beinahe unglaublicher Tanz aus klassischer Gruselgeschichte, Groteske und Formexperiment. Whams Dritthit Club Tropicana findet darin ebenso einen Platz wie ein Märchenwald – bezaubernd! Ich habe zwar nur das ebook gelesen, aber schon hier läßt sich ersehen, wie liebevoll und sinnfällig das Büchlein (im KOVD-Verlag erschienen) ausgestattet und -gestattet ist. Ich werde es wohl jemandem schenken müssen, um es mal physisch durchblättern zu können. Im Zweifel mir selbst... ;-)

Und mit einem ambivalenten Grinsen verabschiede ich mich von einem Sommer, der nicht gerade abenteuerreich und außerdem ziemlich verregnet war. Aber mein Haus ist nicht abgesoffen, der Wald nebenan nicht verbrannt, ich bin nicht an der Delta-Variante erkrankt und keine religiösen Terroristen haben meine Nachbarschaft eingenommen. Mal gucken, was der Rest des Jahres noch so bringt.

Sommercomics: Ralf König, Zarter Schmelz – Lucky Luke weidet lila Kühe und verteidigt gemeinsam mit Calamity Jane die Rechte von LGBTQ+-Personen, hier: Steckrüben. Sehr zeitgemäß und tierisch lustig. / Christophe Bec & Stefano Raffaele: Prometheus 14 &15 – Die verlorenen Seelen & Das Dorf. Nach längerer Atempause starte ich den zweiten Zyklus der überladen-aber-geilen Endzeit-Opera. Die Zivilisation liegt in Trümmern, doch ein paar Figuren aus Zyklus 1 haben das Alien-Armageddon überlebt. Man bildet Gemeinschaften, forscht, sucht Antworten. Wir Leser sind zwar mit den Hintergründen vertraut, doch alles wissen wir auch noch nicht. Die Zeichnungen sind wie immer eine Wucht, tief und detailreich. / Weissblech-Comics: Hammerharte Horror-Schocker #60 und Luba Wolfsschwanz #1 – Levin Kurio ist immer die erste Adresse, wenn es um die Sorte Comic-Trash geht, den Bastei schon lange nicht mehr verlegen mag. Invasion der Monster-Zecken von The Lep ist eine unverschämt witzige Parodie auf die Neue Normalität unserer Tage, und die vier Geschichten um die Tochter der Tundra und ihre Begleiterin sind ein Sex-und-Gewalt-Vergnügen ersten Ranges, das ich unbedingt weiterverfolgen werde. / Loisel, Peter Pan 1 (London) & 2 (Die Insel) – Eine späte Entdeckung dank Antiquariat! Der Zustand der Alben ist zwar etwas ranzig, aber ich hab auch nur 4 Euro bezahlt. Ein grandioser Zeichner, eine grandiose Serie, die ich sicher in naher Zukunft komplettieren und mich hernach ausführlich darüber auslassen werde. Blut und Brüste, adults only, diese Vorgeschichte zu den allseits bekannten jugendfreieren Ereignissen um den Jungen, der nicht erwachsen werden wollte. / Sowie Something ist Killing the Children Vol 3, .auf Englisch schon zu haben. Dieser Band schließt einen ersten Kreis der Geschichte um Monsterjägerin Erica Slaughter und der sinistren Familie, deren Teil sie ist. Die Netflix-Verfilmung ist für Winter 2022 angekündigt, der Erfolg ist vorprogrammiert.


Ach so, und 3 Bände meiner Heftchenserie wären auch noch zu begackern. Hab ich per Leserbrief erledigt und reiche den nach, sobald er dort abgedruckt wird.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen