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Donnerstag, 8. Oktober 2020

2666 von Roberto Bolaño - 2: Der Teil von Amalfitano

 

Die internationale Literaturkritik geizt nicht mit Lob für Roberto Bolaño im Allgemeinen, und für sein 2004 posthum erschienenes Mammutwerk 2666 im Besonderen. Dankenswerterweise besteht der 1200-Seiten-Schinken aus 5 in sich abgeschlossenen Teilen, die laut letztem Willen des chilenischen Autors separat im Jahresrhytmus veröffentlicht werden sollten, - dies aber letztlich nicht wurden. Dennoch nichts sollte mich daran hindern, sie genau so zu lesen: Jeden Teil als eigenständiges Buch, mit genug zeitlichem Abstand zwischen den Lektüren. Denn viel zu lange habe ich dieses gewaltige Werk ehrfürchtig umkreist und mich nicht rangetraut; diesen Zustand möchte ich ganz unbedingt beenden. Die Fraktionierung könnte mir dabei helfen.

Der Teil von Amalfitano

Mit rund 100 rasch gelesenen Seiten präsentiert sich das zweite Buch auf den ersten Blick als ein Nachklapp auf den vorangegangenen Teil der Kritiker, beleuchtet er doch einige Lebenstationen, Gedankenwelten und den Alltag des Professors und alleinerziehenden Vaters Oscar Amalfintano, der an der eher unbedeutenden Universität Santa Teresa (Sonora, Mexiko) Philosophie lehrt und uns als Nebenfigur bereits begegnet ist. Bolaño erzählt auch eine Geschichte von Vereinsamung und dem Verrücktwerden am Alltag - oder sind es doch nur Verschobenheiten? Es sind Träume, die Kunst und ein Anflug von Übernatürlichem, das die Grenze zwischen den inneren und äußeren Realitäten verschmiert wie ein dreckiger Radiergummi - die Geschichte selbst ist dabei kaum spektakulär, Bolaños Schlittenfahrt durch Sprache und Psyche schlicht atemberaubend.

Barcelona. Lola verläßt ihren Lebenspartner Oscar und ihre zweijährige gemeinsame Tochter Rosa, um  gemeinsam mit einer merkwürdigen Freundin namens Inma, eine ungreifbar gnomenhafte Erscheinung, in teenagerhafter Besessenheit einem Dichter nachzustellen, der seinerseits in einer Nervenklinik untergetaucht ist. Almafitino leidet still und stoisch an seinem Verlust. Als Rosa das Jugendlichenalter erreicht hat, folgt er dem Ruf nach Mexiko an die Hochschule von Santa Teresa. Die Frauenmorde in der Stadt lassen ihn in ständiger Angst um seine Tochter leben, die ihrerseits ihre wachsende Autonomie selbstbewußt lebt. Eine freundschaftliche Annäherung an das Kollegium mißlingt, nur der Sohn seiner Dekanin sitzt ihm wie ein lächerlicher Möchtegern-Mephisto im Nacken. Irgendwann beginnt Almafintano eine Stimme zu hören, die ihn in die Gedankenwelt eines esoterischen Traktats einführt, das das indigene Volk der Araukaner in Chile als heimliche Herrscher der Welt  und ihre Fähigkeit zur Telepathie beweist. Zeitgleich vergammelt ein Geographiebuch an der Wäscheleine in seinem Garten - ein privates Kunstprojekt. Der Philosophieprofessor kommt sich selbst abhanden, und wir begleiten ihn dabei - die innere Perspektive wird zunehmend dichter, zwingender, magischer. "Magie ist Epik und Sex und dionysischer Nebel und Spiel," sagt Boris Jelzin zu Almafitano im Traum, ehe ein Vulkankrater ihn verschluckt eine "rotgemaserte Latrine".

Nach Abschluß meiner zweiten Lektüreeinheit von 2666 ist bereits klar, daß ich den Roman in seiner Gesamtheit bald schon ein zweites Mal lesen werde. Bolaño zerlegt mit einer sprachlichen Wucht und gedanklichen Tiefe seine Settings und Personen, daß es durchaus ein Lebenswerk sein kann, sich diesem Autor zu widmen - wie ehedem Proust, Cervantes, Jean Paul oder, wie in Der Teil der Kritiker, Benno von Archimboldi. Epik und Sex und dionysischer Nebel und Spiel - besser hätte Jelzin es nicht sagen können. Nastarowje.

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