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Dienstag, 15. September 2020

2666 von Roberto Bolaño - 1: Der Teil der Kritiker

 

Die internationale Literaturkritik geizt nicht mit Lob für Roberto Bolaño im Allgemeinen, und für sein 2004 posthum erschienenes Mammutwerk 2666 im Besonderen. Dankenswerterweise besteht der 1200-Seiten-Schinken aus 5 in sich abgeschlossenen Teilen, die laut letztem Willen des chilenischen Autors separat im Jahresrhytmus veröffentlicht werden sollten, - dies aber letztlich nicht wurden. Dennoch nichts sollte mich daran hindern, sie genau so zu lesen: Jeden Teil als eigenständiges Buch, mit genug zeitlichem Abstand zwischen den Lektüren. Denn viel zu lange habe ich dieses gewaltige Werk ehrfürchtig umkreist und mich nicht rangetraut; diesen Zustand möchte ich ganz unbedingt beenden. Die Fraktionierung könnte mir dabei helfen.

Der Teil der Kritiker

Bolaño zog als Jugendlicher mit seiner Familie nach Mexico, wo er zu schreiben begann, wurde als 20jähriger Oppositioneller in Chile inhaftiert und emigrierte dann nach Spanien, wo er sich von der Lyrik ab- dem Schreiben von Romanen zuwandte. Im Angesicht einer tödlichen Lebererkrankung verfaßt er mit 2666 ein großes, letztes Werk. Warum der Roman so heißt, erschließt sich nach der Lektüre der ersten Novelle noch nicht, und auch worauf 2666 in seiner Gesamtheit hinauslaufen wird, ist noch nicht absehbar. Vielleicht könnte ich mir das ergoogeln, will es aber nicht, sondern erst Buch für Buch erfahren, auf was ich mich da eingelassen habe. Wesentlich mehr, als was sich dem Klappentext und den paar editorischen Notizen entnehmen läßt, wußte ich zu Beginn des Lesens nicht, aber schon mit den ersten Sätzen war ich ein Gefanger dieser so unspektakulären wie irrwitzigen Geschichte. 

Ein Franzose, ein Spanier, ein Italiener und eine Britin - drei Germanisten, eine Germanistin widmen ihre akademische Arbeit ganz oder teilweise, jedenfalls mit äußerster Leidenschaft, dem zeitgenössischen deutschen Autor Benno von Archimboldi (aka Hans Reiter)  - der, im Gegensatz zu allen anderen im Buch genannten Autoren, rein fiktiv ist. Ihre persönliche Geschichte mit Archimboldi, ihr gegenseitiges  Kennenlernen, ihre Restaurantbesuche, ihre Streifzüge durch das akademische Milieu der Kongresse und Tagungen nimmt gut die Hälfte der Geschichte ein und liest sich nicht annähernd so dröge, wie man meinen möchte. Bolaño ist ein irrsinnig guter Erzähler und Sprachkünstler. So wie er pointiert ist, wenn er will, kann er auch jegliche Pointiertheit entschieden verweigern, er beschreibt seine Figuren gleichermaßen plastisch wie unaufwändig, und der literaturwissenschaftliche Alltag der Protagonist*innen liest sich spannend wie ein guter Krimi. Berichte über ihre Träume sind ein ständiger Begleiter der Geschichte. Das funktioniert auch, weil ich als Leser gern mehr über den Autor, Sonne im Mittelpunkt ihres gemeinsamen Universums, erfahren würde und Seite für Seite nach Archimboldi lechze. Der macht sich aber rar, und somit schaltet die Story um die vier mittlerweile befreundeten Wissenschaftler in einen höheren Gang. Denn einerseits bleiben Liebe, Begehren und Eifersucht nicht aus; diese Gefühle nehmen sich aber seltsam fremd und linkisch aus in einer Welt, deren glühendste Hingabe der Literatur gilt. Und Hans Reiter selbst ist ebenfalls ein untergetauchtes Phantom, das nicht einmal seine Agentin oder sein Verleger aufspüren kann. 

So wie der Lebensweg des Autors von Lateinamerika in die Alte Welt führte, nimmt das Quartett uns nun mit ins mexikanische Santa Teresa - einer der vier bleibt krankheitsbedingt in Spanien, ist aber im ständigen Austausch. Dort machen sie sich auf die Suche nach ihrem Autor, den sie manchmal geradezu verehren - doch auch diese Verehrung wie ihre Freundschaft zeigt allmählich Ermüdungserscheinungen. Sie begegnen merkwürdigen Geschichten (dem Künstler mit der mumifizierten Hand zum Beispiel) und zwielichtigen Personen auf dieser Suche, auch wird Santa Teresa von einer Serie von Frauenmorden heimgesucht. Und als Pellerine sich letztlich in einem ziemlich heruntergekommenen Viertel in eine minderjährige Teppichhändlerin verknallt, wird es verzweifelt und sehr, sehr bizarr.

Ist diese Reise aus dem aufgeräumten Europa in das dunkle Herz Lateinamerikas, wo Schranken fallen, Leidenschaften blühen und vergehen, Abgründe sich auftun - ist das alles nicht auch ein abgegessenes literarisches Klischee? Vielleicht. Doch Bolaños meisterhafte Sprachkunst hat diesen Gedanken während der Lektüre niemals aufkommen lassen, außerdem sind so viele Ösen und Fallstricke in den Szenen und den Schilderungen der Ereignisse und Seelenzustände versteckt, daß ich klarstellen muß: Das ist gewaltige Literatur. Vielleicht ist 2666 das Buch, nach dessen Wucht ich mich schon längere Zeit sehne. Ein Buch, das mich ab Seite 1 umhaut. Ein überwältigendes Leseerlebnis. Kurz: Ich freu mich auf den zweiten Teil!


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