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Freitag, 25. September 2020

Bizarre Biotope: Sickest Stuff aus dem TEDI, nur 1 Euro!

Ich spare mir die Mühe, einleitende Worte zu finden, und zitiere stattdessen aus ganzem Herzen einen beißenden Kommentar (Hervorhebungen durch mich..) vom Blog Temporamores 165:

Licht und Schatten: Im Suhrkamp Verlag erschien soeben mit MUND VOLL ZUNGEN (245 S., suhrkamp taschenbuch 4183, Reihe NEWGOTHIC, Band 2) der erste ins Deutsche übersetzte Roman des amerikanischen SF-Autors Paul Di Filippo. Und anstatt diesem erstklassigen Science-Fiction-Roman ein passendes „Cyberpunk ist tot – es lebe der Ribofunk!“-Label (am besten in Giftgrün) aufzukleben, oder wenigstens ein sattes: „»Die Welt als pornographisches Lachkabinett Arno Schmidt“ auf den hinteren Deckel zu drucken, versucht man in Berlin alles, um dem Leser den Einstieg zu erschweren. Nachdem man den Ekel vor dem unsäglichen Titelbild (und die Abneigung gegen den elitär-großkotzigen Untertitel) überwunden hat, muss man sich erst noch durch ein (gottlob kurzes) Vorwort von NEWGOTHIC-Herausgeber Dietmar Dath kämpfen, bevor man in Di Filippos Zukunftswelt eintauchen darf. MUND VOLL ZUNGEN erweist sich dann als sprachgewandte und ideenreiche Weiterentwicklung erzähltechnischer New Wave-Experimente a la Philip Jose Farmer und Samuel R. Delany, die es vor mehr als vierzig Jahren unternahmen, der ach so prüden Science Fiction mit ein wenig Fleischeslust und Körperflüssigkeitsaustausch ins „wirkliche Leben“ zu verhelfen. Di Filippos sprachgewaltige Erzählung über geldgeile Pharmakonzerne, menschliche Ausschweifungen, die Unterschiede zwischen urbaner Verwahrlosung und tropisch-natürlicher, ausufernder Sexualität, ist eine desillusionierte Zukunftsschau, die uns inzwischen (der Roman erschien in den USA bereits 2002) fast eingeholt hat. Paul Di Filippo gehört gegenwärtig zu den interessantesten amerikanischen Autoren, dass man ihn jetzt hierzulande kennen lernen kann, ist das Verdienst von Dath/Suhrkamp – dass dies nicht ganz einfach ist, allerdings auch. 

Damit wurde nahezu alles Wichtige gesagt, und das bereits vor 10 Jahren. Die Reihe NEWGOTHIC hat es bei Suhrkamp gerade mal auf kümmerliche 3 Bände gebracht. Das Dietmar-Dath-mäßige, nicht gerade niederschwellige Marketing ist mit Sicherheit nicht ganz unschuldig daran, daß die Restexemplare jetzt, weitere 10 Jahre später, in großer Stückzahl bei TEDI verramscht werden. Da ist die nahe Zukunft, in der Di Filipo die Romanhandlung angesiedelt hat, bereits seit 5 Jahren Vergangenheit. 

So hoch hätte man also die literarische Latte gar nicht hängen müssen, zumal die hohe sprachliche Qualität von Mund voller Zungen nicht kaschieren kann, daß wir es mit einem enormen Trash zu tun haben. Hervorragendem Trash! 

Kelly, ihr Gesicht ist mit einem markanten Feuermal gezeichnet, arbeitet für ein Biotech-Labor, dessen Arbeitsklima von Unterdrückung und Sexismus geprägt ist - was dem 2020er Leser (m/w/d) sofort an #metoo erinnert. In einem Anfall von Verzweiflung und Entwürdigung beginnt sie einen irrwitzigen Rachefeldzug, indem sie sich mit einem firmeneigenen TOP-SECRET-Gezücht namens Benthos vereint. Es zieht diese totipotente Vieh/Mensch-Melange in ein Kaff in der brasilianischen Regenwaldregion Bahia, wo es gedeihen, spirituell reifen, sich verwandeln und vermehren kann. Das hat im Wesentlichen mit Sex zu tun, in dem Mutationen, Intersexualität, Rausch und Blut tragende Rollen spielen, in dem auch Penisse verschmelzen und Oligarchen in ihrem eigenen Sperma ersaufen können, daß kubikmeterweise aus dem Mund quillt. Inzest, Zoophilie, Blitzschwangerschaften, Orgien und Orgasmen - und die Bruja Kelly Hacket belohnt mithilfe einer lebensgierigen, alles beherrschenden Megasexualität die Guten und richtet die Bösen jener Kleinstadt, bis es sie schließlich zur Vollendung ihrer neuen Identität in den Dschungel zu den Indios zieht. Und dann auf beeindruckende Weise in der Business-Wüste ihrer alten Heimat Tabula Rasa macht. 

Diese Handlung  würde nun, auch wegen seiner mehr als expliziten Sprache, jenen Groschenheftchen sehr gerecht werden, wie sie in den 70ern und 80ern gerne von der Bundesprüfstelle für jegendgefährdende Schriften indiziert und daher auf Schulhöfen hoch gehandelt wurden. Sprachlich ist das Ding aber alles andere als billig, und das ein oder andere Fremdwort habe ich ebenfalls nachschlagen müssen. Belohnt wurde ich mit einer brutal lebensbejahenden, extrem kurzweiligen Geschichte. Wer Spaß an bizarrer Weird Fiction hat, ist mit diesem Buch bestens bedient und sollte unbedingt in der Bücherschütte seines nächstgelegenen TEDI-Marktes Ausschau halten.

Noch ein Wort zu Herausgeber Dietmar Dath, diesem dünnen Marxisten, der im eingangs zitierten Blogeintrag ordentlich sein Fett wegkriegt. Ja, er schreibt hochgestochen und manchmal schlaumeierisch. Seinen Roman mit dem sehr geilen Titel Abschaffung der Arten mußte ich nach einiger vergeblicher Anstrengung unverstanden und unverdaut aufgeben, und auch sein aktuellstes Werk über Science-Fiction-Literatur soll wohl ein ziemlicher Brocken sein. Aber, liebe Phantastik-Gemeinde: Er ist nun mal unser Mann beim Großfeuilleton und mir schon allein deshalb sympathisch, weil er  ín der FAZ eine Ausgabe meiner Leib-und-Magen-Heftromanserie Maddrax - Die dunkle Zukunft der Erde empfahl. Das tat er nicht ganz ironiefrei, und dennoch: Solche hochengagierten und produktiven Intellellen😵, über die man sich meinethalben auch ärgern und an denen man sich reiben kann, die dann aber ständig solche Schätze ausgraben und publizieren wie Mund voll Zungen, kann unser manchmal belächeltes Genre immer gut gebrauchen.

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