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Montag, 16. November 2020

MX 543 - Versunken

Im heißgeliebten Autorinnen- und Autorenteam der Pulp-Serie meines Vertrauens hat Simon Borner einen Signature Move: Die Fortschreibung von bekannten und weniger bekannten Mythen und Sagen in der Realität des Maddraxiversums. Im aktuellen Heft holt er, um im Bild zu bleiben, nun zum Roundhousekick aus und legt mit Die Insel des Atlas das ganz große Besteck auf den Tisch des Hauses. Es geht um nichts weniger als Atlantis, der Titel deutet es an. Nur wenige Phantastik-Serien kommen auf Dauer an dem versunkenen Inselreich vorbei, und in MX kam Atlassa zwar schon vor, war aber doch eher unterbelichtet. Genug Raum also für Borner, unbelastet von allzuviel Rücksichten auf die Kongruenz drauflos zu fabulieren.

Das Ergebnis ist eine starke Episode, die aber weniger von ihrer Handlung lebt. Die Warnungen eines Forschers vor dem drohenden Untergang werden von verblendeten Militärs unterdrückt, schließlich gelingt es ihm mit knapper Not, wenigstens sich selbst und seine Ehefrau zu retten – das ist nicht allzu originell, wenn auch angesichts des seit den 70ern kleingeredeten Klimawandels und den Corona-Leerdenkern in den Innenstädten und sozialen Netzwerken von gewisser Aktualität. Was mich hingegen beim Lesen des Heftchens auf Trab gehalten hat, war die tolle Atmosphäre, die der Autor kreiert. Es gibt handlungsmäßig zwar einen Vorgriff zu Beginn des zweiten Kapitels, der im Grunde nicht notgetan hätte. Ansonsten ist die Story aber recht ruhig und linear erzählt. Genau deshalb kann sich sehr allmählich eine drückende Spannung aufbauen, die das Ding zu einem echten pageturner macht. Marl Onbras Zaudern, seine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel zu setzen und der schmerzhafte Konflikt zwischen ihm und seinem Sohn, dazu eine Gesellschaft, die ihr Heil in der Abkapselung in Arroganz und Militärstaatlichkeit sucht und darüber ihre Offenheit verliert – das ist wirklich toll eingefangen.

Dazu kommt die Geschichte von Ei'don, der ja bei den Hydriten selbst eine mythologische Gestalt ist. Er soll Onbra unterstützen, die Insulaner zu warnen und zu evakuieren – vergeblich. Stattdessen findet er sich massiven Peinigungen ausgesetzt, denen er mit beeindruckender Willensstärke trotzt. Hier habe ich mich an den großartigen Film Shape OfWater erinnert gefühlt. Und ganz nebenbei wird der sagenumwobene Held per Tauchkapsel und Weltenwechsel in das Serien-Jetzt katapultiert, wo sicher noch einiges von ihm zu erwarten ist. Daß der historische Kern der alten Sage vom versunkenen Kontinent sich erst in einer 500 Jahre entfernten Zukunft durch eine Instabilität im Raum-Zeit-Gefüge ereignen wird, ist obendrauf ein schön schräger Mindfuck, eines Robert Anton Wilson ebenbürtig...

Bleibt als Wermutstropfen, daß die von mir so ersehnte Begegnung der beiden Maddraxxe kaum wahrnehmbar in einer Nebenhandlung versickert. Und daß ich mir beim besten Willen nicht ergooglen kann, warum der der Gelehrte Marl Onbra so heißt wie er heißt. Hat Marlon Bra(ndo) je in einem Atlantis-Film mitgespielt? Eine Andeutung, die mir leider rätselhaft bleibt.

A propos ergoogeln: Ich habe im Zuge meiner Lektüre viel über den Atlantis-Mythos bei Wikipedia nachgeschlagen und hinzugelernt. Das alte Versprechen des Internets, uneingeschränkten Wissenzugang für alle zu bieten, ist 2020 leider nicht mehr in vielen Plattformen eingelöst. Doch Wikipedia hält diese Flamme lebendig! Dieser Tage wird mal wieder zu Spenden aufgerufen, damit das Nachschlagewerk unabhängig bleiben kann. Wenn jede*r, der/die diesen Blogeintrag liest, ein paar Euro entbehren könnte... ihr wißt ja.

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