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Freitag, 12. Juni 2020

Nicht jeder Murakami kann ein Mister Aufziehvogel sein

"Nachdem ich die letzten Seiten eher überflogen hatte, statt sie sorgfältig zu lesen, schlug ich das Buch zu und sah ein wenig zum Fenster hinaus. Draußen stieg eine etwa mittelgroße, schlanke Frau aus ihrem Wagen, einem taubenblauen VW-Golf älteren Baujahrs. Sie legte ihren Mundschutz an und stieg die kurze Treppe zur Sparkassenfiliale hinauf, die meinem Fenster gegenüberlag. Sonst war, wie gewöhnlich um diese Tageszeit, auf der Straße nicht viel los. Ich nahm mein Buch nochmal zur Hand und betrachtete den Einband. Der Schutzumschlag glänzte auffällig, er war halbtransparent und erzeugte im Zusammenspiel mit dem darunterliegendem Deckel einen dezenten Holo-Effekt. Haruki Murakami, stand dort zu lesen, Die Ermordung des Kommendatore. - Da ich seit einigen Tagen endlich wieder mehr in meiner Firma zu tun hatte, weil der umfassende Corona-Shutdown mehr und mehr gelockert wurden, hatte ich deutlich länger für die 480 Seiten gebraucht als zunächst erwartet. Ein wenig lag das aber wohl auch an dem Roman selbst. Ich hatte noch vor einigen Jahren viel von Haruki Murakami gelesen und schätzte diesen Autor sehr, doch weil sein sachlich-lakonischer Stil auch immer etwas ermüdend auf mich wirkte, wenn ich in zu kurzen Abständen viel hintereinander las, hatte ich ihn in der letzten Zeit etwas aus de, Blick verloren. Nun also, nach einiger Abstinez, dieser erste Band eines Zweiteilers: I - Eine Idee erscheint.
   Ich seufzte, erhob mich und ging in die Küche, um das Abendbrot zuzubereiten. Ich schnitt sorgfältig Tomaten, Zwiebeln, Gurken und Käse für einen Salat und heizte den Ofen vor, um etwas Weißbrot mit Knoblauch, Öl, Rosmarin und grob gemahlenem Salz zu rösten. Dabei dachte ich über Murakami nach, dessen Romane fast immer die Konstante aufweisen, daß ein Mann mittleren Alters in seiner Küche steht und Essen macht, was jedesmal appetitanregend detailliert beschrieben wird. Im Gegensatz zu mir jedoch ist dieser Mann in der Regel einsam und hört während des Schnibbelns, Kochens, Bratens und Anrichtens wahlweise Klassik oder Jazz. Doch an mein Plattenregal zu gehen und mir eine Musik auszuwählen kam nicht infrage, denn in Gegensatz zu Murakamis Ich-Erzählern war ich keinesfalls einsam - meine Familie würde sich schon in einer dreiviertel Stunde um den Tisch versammeln, auf dem immer noch der Murakami lag - ich hatte also einen gewissen Zeitdruck.
   Der Protagonist in dem Buch, das ich grad zu Ende gelesen hatte, war ein gefragter Portaitmaler, dem es aber an Inspiration zu eigener, persönlicher Kunst magelte. Er bezog ein abgelegens Haus, das einem berühmten Kollegen gehörte, stieß dort auf dem Dachboden auf ein merkwürdiges Gemälde, entdeckte ein verborgenes Geheimnis, das sich aber nicht vollständig entschlüsselte. schloß Bekanntschaft mit seinem wohlhabenden Nachbarn, der wiederum einen eigenen Plan verfolgte, der ebenfalls von Geheimnissen umrankt war, hatte explizite, aber geschmackvoll geschriebene Bettszenen mit einer Geliebten, kochte, hörte Klassik und dachte über seine zerrüttete Ehe nach. Soweit, so Murakami.
   Was mich in zurückliegenden Lektüren immer an dem Autor begeistert hatte, fand ich auch hier: Sein Stil war schlicht und klar wie eh und je, das Mystische entfaltete sich äußerst allmählich und fühlte sich eher surreal, etwa wie ein Gemälde von Magritte, an, nicht wie ein 08/15-Fantasy-Schinken. Das war auch sicher ein Grund, warum Murakami bei DuMont erschien und als Literat ernster genommen wurde als andere, die ähnliche Plots entwarfen, überlegte ich. Dabei wurde einiges an Eine Idee erscheint diesem Ruf nicht wirklich gerecht: Der Roman strotzte nur so vor Redundanzen, als hätte es nie ein Lektorat gesehen, oder sei es als Fortsetzungsroman konzipiert worden, der Quereinsteigern in jedem Kapitel erneut die Handlungsinformationen durchkauen mußte, die andere schon zwanzigmal zur Kenntnis genommen hatten. Die Lektüre war teilweise so unerfreulich gewesen, daß auch der äußerst originelle Plot-Twist um Seite 300 herum meinen Entschluß, mir den zweiten Band ganz sicher nicht zu kaufen, nicht mehr umkehren konnte. Von Seite zu Seite hatte mich Die Ermordung des Kommendatore mehr genervt. 
   Ich richtete den Salat, das Brot und einige Dips sowie Wein, Wasser und Apfelsaft auf dem Abendbrottisch an und formulierte dabei in Gedanken eine Rezension für meinen Blog 1/2 Kapitel's Bücherbums, die den typischen Murakami-Sound imitieren sollte. Später würde ich ihn tippen. Aber, so überlegte ich, wäre es nicht ungerecht, unerwähnt zu lassen, was mir an diesem Roman so gefallen hatte? Denn positive Aspekte gab es sehr wohl auch, und vielleicht sollte ich sie nicht unterschlagen. Im Gegensatz zu Wilde Schafsjagd nämlich, zu Mister Aufziehvogel und meinem heißgeliebten Sputnik Sweetheart las sich dieses Buch viel weniger westlich, als spielten die japanische Herkunft der Figuren, ihre kulturellen Traditionen, ihr Alltag diesmal tatsächlich eine Rolle. Der Buddhismus, traditionelle Malerei, japanische Märchen werden in Bezug zu Mozarts Opern, dem europäischen Faschismus und dem Mythos um Don Juan/Giovanni gesetzt - Gegensätze, die in Murakamis Leben vielleicht ebenfalls eine gewisse Rolle spielen. Hier hatte das Buch die Stärke, die ihm sonst leider fehlte.
   Ich räumte das Buch vom Eßtisch ins Regal, wo es sicher bald verstauben würde - ein großer Wurf war Haruki Murakami nicht gelungen. Und bevor ich es mit einem weiteren aktuellen Werk dieses Autors aufnehmen würde, würde ich doch lieber nochmal eins der alten, die mir damals so ausnehmend gut gefallen hatten, lesen."

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