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Freitag, 17. Juli 2020

Möwenschreie an der Lahn: Urlaubslektüren 2020

Vielleicht könnte Urlaubszeit auch mal Klassikerzeit sein, dachte ich so, nachdem ich aus einem jener zahlreichen Bücherkläppchen in unseren zahlreichen Städtchen zwei gebrauchte Hamburger Leseheftchen zog – mit Bleistift und Textmarker gründlich und ordentlich bearbeitet von einer gewissen Kathrin S. aus Herne. In Klasse 8a hatte sie Die Judenbuche von A. Droste-Hülshoff lesen müssen, im Jahr zuvor war Der Schimmelreiter von Theodor Storm an der Reihe gewesen. Beide Werke kannte ich bis dato nur dem Titel nach und beschloß, in meinen Ferien mal etwas Schulstoff nachzuarbeiten... Der Schimmelreiter ist ja angeblich qualvoller Pflichtstoff für viele Schüler*innen, was ich mir angesichts der extrem altertümlichen und zudem noch friesisch-regional geprägten Sprache durchaus vorstellen kann. Als absolut freiwilliger Leser in meinen besten Jahren war ich aber von der Geschichte um den jungen Hauke Haien total fasziniert, dem trotz einer in Tradition, Aberglauben und Sturheit erstarrten Gesellschaft der Aufstieg zum Deichgrafen seines Fleckens gelingt. Aufgrund seines überragenden technischen Verständnisses bringt Hauke trotz Widerständen bei der Bevölkerung zahlreiche (kostspielige) Innovationen im Deichbau auf den Weg und trotzt der Nordesee neues, fruchtbares Land ab. Doch genau dort, wo er schweren Herzens einen Kompromiß zwischen Tradition und Moderne eingehen muß, wird er an den Naturgewalten scheitern. Eine grandiose Novelle, völlig zurecht ein Klassiker! Zusätzlich bringen mystische Elemente ein veritables Drei-Fragezeichen-Feeling in das Leseerlebnis.

Und auf die ??? aus Rocky Beach komme ich nicht von ungefähr, denn ich habe mir im Wohnwagen die Graphic Novel Das Dorf der Teufel aus dem Lesestapel meiner Kids gemopst. Wie viele meiner Generation habe ich der Buch- und Hörspielreihe um Justus, Peter und Bob bis ins Erwachsenenalter die Treue gehalten und wurde neben zahlreicher Fließbandware auch immer mal wieder mit tollen Krimis beglückt. Erst in den letzten Jahren hatte ich letztlich doch das Interesse verloren. Dorf der Teufel emanzipiert sich bis auf den charakteristischem Schriftzug (weiß-rot-blau) optisch deutlich von der ikonischen Covergestaltung der Aiga Rasch aus den späten 70ern, dem die Reihe im deutschsprachigen Raum immer noch verpflichtet ist wie die US-Burgerkette ihrem goldenen M - dieser Unterschied springt zuerst ins Auge. Christopher Tauber und Asja Wiegand setzen in Stil und Farbgebung einen entschiedenen Stil durch, der Comic sieht insgesamt super aus. Chauffeur Morton und sogar ein Vorwort von Alfred H. lassen nostaligische Gefühle aufkommen. Leider ist die Handlung aber bloß ???-typische Konfektionsware. Meiner Meinung nach hat der Kosmos-Verlag hier die Chance vergeben, mit der Comicreihe auch erzählerisches Neuland zu betreten – z.B. wäre eine Verlagerung des Plots in die ursprünglichen 60er oder ein „erwachsenerer“ Krimi dem look-and-feel dieses Bandes angemessen gewesen. Schade.

Spaß zu lesen haben auch die gedruckten Blogposts der Zwillingsbrüder Hansen und Paul Hoeppner gemacht, die vor einigen Jahren unter dem Titel Zwei nach Shanghai erschienen sind. Die beiden Jungs sind tatsächlich mit dem Rad und spartanischem Gepäck 13600 km von Berlin nach Shanghai gefahren, ich bin schonmal bei Youtube auf dieses abenteuerliche Unternehmen gestoßen. Die Reise ist auch bestens in einem Film dokumentiert, den ich nach der Lektüre dieses spannenden, anekdotenreichen Reiseberichts aber wohl nicht mehr schauen muß. Wobei eine ausführlichere Fotostrecke und etwas weniger familiäre Nabelschau, dafür mehr Reisebericht dem Sachbuch sicher zusätzlich gut getan hätten. Eingedenk meiner eigenen Basic-Reiseabenteuer im Alter der Hoeppner-Twins (Irland, Schweden, Portugal... seufz) ein Lesetrip, der mich zwischen Beeindruckung und Nostalgie hat schwanken lassen – auch wenn sich nicht annähernd so eine außergewöhnliche Reise in meiner Biographie finden läßt, weiß ich doch noch gut, wie geil es ist, völlig fertig und verdreckt in einem Zelt unter den Sternen irgendwo im Nirgendwo zu nächtigen – toll. Danke für euren Mut und euer Durchhaltevermögen, ihr beiden!


Außerdem standen zwei Maddrax-Heftchenromane auf meiner Urlaubsagenda, nämlich die aktuelle Episode Melange von Ian Rolf Hill und die Nr. 40 aus dem Jahre 2001 Die Faust Gottes von Jo Zybell, der in der Anfangsphase zahlreiche Romane für die Serie verfaßte, von denen ich noch keinen schlecht fand, auch das Hardcover Apokalypse, das die MX-Vorgeschichte beleuchtet, hat mir gut gefallen. Faust Gottes ist ein Crossover mit einer mir unbekannten Serie mit dem Titel Reverend Pain um einen postapokalyptischen Dämonenjäger mit Lederkutte und Motorrad. Interessante Trash-Figur... Melange ist jedoch der eindeutig bessere Horror-Schocker. Meine Güte, I.R.H. ist hier wirklich vor nix fies und präsentiert einen Bad-Taste-Roman vom Allerfeinsten, der eine direkte Fortsetzung zum Vorgänger Krieger des Lichts bildet und den sympathischen Rebellentrupp um Olivia Cunning in der unfreiwilligen Symbiose mit einer Biomasse aus der Zukunft zu energiehungrigen Monstern mutieren läßt, die sich über die degenerierte Menschensiedlung um eine leckgeschlagene Atommülldeponie hermacht... Was für ein Wahnsinn, geil.

Olivia heißt auch die Protagonistin eines in vielerlei Hinsicht völlig anderen Buchs, das ich hier beim Angeln und Chillen (Super Wetter!) verschlungen habe: Mit Blick aufs Meer von Elisabeth Strout – eine Empfehlung meiner Mutter, an der ich im Buchladen sicher vorbeigelaufen wäre (und vermutlich auch bin): Das Cover sieht schwer nach Frauenroman aus, und auch die Zitate auf dem Buchrücken stammen von der Freundin, der Brigitte und von Christine Westermann – also Lektüre, die ich normalerweise links liegen lasse. Aber daß Strout 2008 den Pulitzerpreis für diesen Episodenroman bekommen hat, hat mich dann doch neugierig gemacht. Ich bin froh, dieses tolle Buch gelesen zu haben und werde mich sicher auch der Fortsetzung widmen, die erst seit Kurzem erhältlich ist. Die zahlreichen Episoden erzählen einfühlsam, aber niemals sentimental von kleinen und großen Dramen in einer kleinen Küstenstadt in Maine. Irgendwie immer mit im Bild sind die pensionierte Olivia Kitteridge und ihr freundlicher Mann Henry, mal als Randfiguren, mal im Fokus der Erzählerin. Kitteridge ist wahrhaftig keine sympatische Frau: Voll von Vorurteilen, Zynismus und Gewichtsproblemen, sehen wir als Leser*innen die Welt trotzdem durch ihre Augen, leiden und lieben mit ihr, auch wenn unser Verstand immer Partei für diejenigen ergreifen muß, die Kollateralschäden ihres ungnädigen Wertesystems sind: So auch der eigene Sohn, sogar ihr Mann... Unbezahlbar gut ist die Story von der Geiselnahme im Krankenhaus, aber letztlich hat jede der Episoden hat eine eigene, nachaltige Qualität. Und wenn die Brandung an die schroffe Küste heranrollt, die Hummerboote schaukeln und die Möwen kreischen, läßt mich das lakonisch-hoffnungsvolle Ende nachdenklich zurück.


Auch das Handbuch für Zeitreisende von Charles Yu durchzieht ein melancholischer Grundton. Daß der Roman von einer schrägen Grundidee getragen wird und stellenweise auch recht witzig ist, hat den Verlag bewogen, auf dem Buchrücken einen Vergleich mit Douglas Adams anzustrengen. Doch das ist reines Marketing. Das Handbuch für Zeitreisende hat seine Highlights an ganz anderer Stelle, eine kosmische Freak-Show findet man hier jedoch nicht. Yu, Protagonist und Ich-Erzähler in einer Person, repariert Zeitmaschinen und befreit Zeitreisende aus Paradoxie-Pannen und Zeitschleifen. Erfinder und verkanntes Genie der Zeitreisetechnik, die mittlerweile ein Massenmarkt ist: der eigene Vater. Und so reflektiert der Autor sensibel und humorvoll über die Beziehung von Vätern und Söhnen, über das Schreiben, die Einsamkeit, seine asiatische Herkunft und die Science-Fiction als solche. Und weil ich Science-Fiction grundsätzlich mag, hat auch in diesen Ferien mal wieder ein gescheiterter Versuch stattgefunden, mich dem Perry-Rhodan-Universum anzunähern, der bedeutendsten SF-Romanheftserie überhaupt. Der PR-NEO-Band 230 Ruf der Dunkelheit läutet eine neue Staffel der Serie ein, und ich habe erneut den Einstieg versucht. Ich kenne ein paar der alten Hörspiele mit dem wunderbaren Uwe Friedrichsen als Titelheld, mag den großen Roman von Eschbach und habe auch an der ersten Staffel der Rhodan-NEO-Reihe Gefallen gefunden – als es mit Band 10 in das Wega-System ging, Gucky und die Topsider auftauchten, war ich irgendwie raus. Oliver Plaschka schreibt das vorliegende Taschenheft solide, aber der Funke will auch diesmal partout nicht überspringen. Der Unsterbliche und ich werden wohl in diesem Leben nicht mehr zusammenkommen, auch wenn ich aufgrund von Kultstatus und Aufmachung der Hefte irgendwie gern Teil der Fangemeinde wäre. Aber es funzt einfach nicht so richtig.

Bleibt noch die Judenbuche. Ich will nicht groß lästern, und die Stellung der Novelle in der Literaturgeschichte hat ganz sicher ihre Berechtigung. Es geht irgendwie um Schuld, um archaisches Recht, und ein Leben in der Provinz – aber letztlich war es sprachlich und erzählerisch eine furchtbare Qual, die ich nach zwei Dritteln abbrechen mußte – zum Glück verlangt nach den Ferien niemand von mir, eine Klausur darüber zu schreiben. Es ist sicher nicht leicht, Schüler*innen für Klassiker zu begeistern, aber es gibt bestimmt geeignetere Stoffe, liebes Lehrpersonal – der Schimmelreiter z.B. würde sogar eine vielversprechende Vorlage für eine Netflix-Serie abgeben, s.o. Thoeodor Storm also, und Elisabeth Strouts Mit Blick aufs Meer waren meine literarischen Höhepunkte dieses dreiwöchigen Corona-Downshiftig-Deutschland-Urlaubs: Eine durch und durch maritime Angelegenheit, und das mitten im schönen Rheinland-Pfalz.

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