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Montag, 29. März 2021

Gemauerte Riesen

Kae Tempest, the artist formally known als Kate Tempest, bürgerlich Kate Esther Calvet, ist mir zunächst als Musikerin über den Weg gelaufen. Oder, genauer, als Spoken Word Artist. Oder Poetry Slammer, je nach Geschmack und Lesart. Ihren ersten und bisher einzigen Roman The Bricks That Built The Houses veröffentlichte sie 2016, ich hatte dieses Frühjahr das Glück, ihn zu lesen. 

Glück heißt an dieser Stelle spezifisch: Ihren rauen, verletzlichen, angriffigen, ehrlichen
Sound, der metaphernreich und hochpoetisch, doch niemals verschwurbelt und immer geerdet ist, diese trotzige und offene Stimme, diese virtuose Wortphantasie, von jeder Spur von Eitelkeit völlig ungetrübt, 400 Buchseiten lang im Ohr zu haben. Und ja, auch wenn Story, Figuren und Konzeption des Romans stimmig sind und ebenfalls Lesespass bereiten - es ist Kae Tempests Sprache, die dieses Buch aus der Masse der zahlreichen anderen Stories des Genres Junge urbane Menschen kriegen ihr Leben nicht auf die Reihe und wenn doch ist es auch irgendwie scheisse herausragen lässt. Eine Sprache, die das magische Denken eines Kindes mühelos mit der rauhen Lebenswirklichkeit eines Londons verbinden kann, in dem Gewalt, Drogen und Perspektivlosigkeit alle Träume von einem erfüllten Leben zu ersticken drohen. Da verliebt man sich nicht einfach oder hat Angst - da bersten stattdessen Herzen aus dem Körper, tanzen durch Räume und besudeln die Wände mit Blut. Das ist Prosa, und so gar nicht prosaisch.

Nanos gigantum humeris insidentes, soll Bernhard von Chatres im zwölften Jahrhundert gesagt haben, wir sind Zwerge, auf den Schultern von Riesen sitzend. Tempests Plot um die erfolglose Tänzerin und Happy-End-Masseurin Becky, ihren eifersüchtigen Freund Pete und die geschlechtsverwirrte Gelegenheitsdealerin Harry wäre unspektakulär, würde die Autorin ebenjene Riesen, die Londoner Gesellschaft und die Generationen, aus denen sie gebaut wurde, nicht genauer in Augenschein nehmen. Fast biblisch lernen wir die Geschichten und Familienhistorien auch zahlreicher Nebenfiguren kennen. Wir ahnen: Trotz aller Ausführlichkeit kratzen wir nur an der Oberfläche herum. Und erkennen: Die Riesen sind auch nur aus Ziegeln gebaut. In einer Schlüsselszene vermasseln Harry und Becky es mal wieder, sich ihre Liebe zu gestehen, pröckeln dabei verlegen im Mörtel herum, der die Klinker im U-Bahnhof zusammenhält. Ergründen, warum die Dinge so sind wie sie sind? Ein aussichtslosens Unterfangen, vor allem wenn man jung ist und noch was will vom Leben. Und die Verbindungen zwischen der Leben der Protagonistinnen sind ungeahnt und vielfältig, verdichten sich. Es kommt zur Katastrophe. Und danach sogar zum Ausbruch aus der ganzen Scheisse, zu einem Happy End! Das wird in einem abschliessenden Kapitel zwar relativiert - optimistisch ist Tempest trotz ihrer vehementen Lebensbejahung nicht unbedingt - doch das mochte ich dann gar nicht mehr so genau wissen und hab die letzten 15 Seiten geschwänzt. Eine Lektüre, die mich noch lange im Griff haben und mich Kaes Dramen und Gedichte ebenfalls lesen lassen wird. (Als Musikerin ist sie auch ganz gut, aber für mein Plattenregal dann doch zu sehr Elektro...)

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