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Montag, 15. Juni 2020

Henry Miller - Gar nichts tun, einfach nur leben.

Sich über Henry Miller moralisch zu echauffieren, überlasse ich anderen. Schließlich hatte die amerikanische Justiz bei Erscheinen seiner Bücher in den 60ern alle Hände voll zu tun - der Vorwurf lautete Pornographie -, und da seine sexuelle Sprache nicht zimperlich ist, ist die Novelle Stille Tage in Clichy auch heute nichts für Betschwestern und Verklemmte. Auf der Höhe des von #metoo angestoßenen und überfälligen Diskurses über Sexismus in Kunst und Gesellschaft ist der Text jedoch nicht, und als Kind meiner Zeit gelingt es mir kaum, es lediglich als sexuelle Befreiung zu lesen, wenn Sexpartnerinnen als Stück Fleisch bezeichnet werden und man einem klaren Nein der Frauen entgegenwirkt, in dem man ihnen trotzdem an das Geschlecht greift und an dann werden sie schon feucht und willig (bzw. dampfen wie ein Haufen Dung). Eine radikal subjektive Männerphantasie trifft es dann schon eher, und als solche ist Miller sicher lesenswert, große Literatur.
   Was mich angeht, ist Stille Tage... mein zweiter Versuch, es mit jenem Enfant Terrible aufzunehmen, dessen Einfluß auf die Beat Generation gar nicht hoch genug bemessen werden kann. Meine Lektüre von Wendekreis des Krebses liegt aber 25 Jahre zurück, ich fand die Geschichte langweilig und gab nach wenigen Seiten auf. Vielleicht mußte ich mich altersmäßig erst deutlich in Richtung Lustgreis bewegen, um die sexuellen Abenteuer Millers respektive seines Alter Ego Joey schätzen zu können. Mit 20 ist man in der Beziehung ja ohnehin selbst ausgelastet genug. Der Amerikaner Joey und sein Schriftstellerkollege Carl also leben in einer Wohngemeinschaft in Paris, haben ständig zu wenig Geld, dafür aber jede Menge ausschweifenden Sex. Eine vierzehnjährige, etwas dämliche Colette von der Straße schlüpft für einige Zeit bei den beiden unter und ist vor allem Carl sexuell zu Diensten, die befürchtete Strafverfolgung bleibt aber aus, - sie suchen als Schriftsteller ja schließlich Inspiration für Höheres und sind nicht einfach bloß Kinderficker.
   Wesentlich mehr gibt die Handlung nicht her. Aber Miller kann schreiben! Es ist eine wahre Wonne, ihn zu lesen! Wenn Joey seiner Nys sein letztes Geld gegeben hat und jetzt den Müll nach Eßbaren durchstöbert: Grandios beschrieben! Oder diese Passage:  "Ein gutes Essen, ein gutes Gespräch und ein guter Fick - wie konnte man denn einen Tag besser verbringen? Sie kannte keine Gewissensbisse, es gab keine Sorgen, die sie nicht leicht abwarf. Sie ließ sich einfach von der Strömung treiben. Sie brachte keine Kinder zur Welt, trug nichts zum Wohlergehen der Allgemeinheit bei, ließ in der Welt keine Spur hinter sich zurück. Aber wohin sie auch kam, wurde das Leben leichter, reizvoller, beschwingter. (...) Manchmal wünschte ich mir, ich wäre eine Frau wie sie und besäße weiter nichts als eine anziehende Möse. Wie wundervoll, seine Möse zur Arbeit und seinen Verstand zum Vergnügen zu verwenden! Sich ins Glück zu verlieben! So unnütz wie möglich zu werden! Ein Gewissen, so robust wie eine Krokodilshaut zu entwickeln! Und wenn man alt und nicht mehr anziehend war, notfalls für einen Fick zu bezahlen. Oder einen Hund zu kaufen und ihn darauf abzurichten. Nackt und allein zu sterben, wenn die Zeit kam - ohne Schuld, ohne Klage, ohne Reue..." Die ganze Sehnsucht dieser Zeit und auch des in heutigen Zwängen gefangenen Menschen spricht aus solchen Zeilen, die radikal verdichtet dicht sind wie gute Poesie. Da wird mir klar, daß Miller seinen Ruhm weit Gewichtigerem zu verdanken hat als ein paar schmutzigen Phantasien.

  Meine antiquarisch erworbene Ausgabe ist ebenfalls eine Freude: ein ansprechend aufgemachter Band, Lizenzausgabe für den Deutschen Bücherbund Stuttgart mit silbergrauem Schutzumschlag, hochwertigem Druck im Einband und zahlreichen Bildern aus der Verfilmung von Jens Jörgen Thorsen. Es enthält außerdem ein beinahe übertrieben euphorisches Vorwort des Sohns des Autors und als Digestif die kurze Erzählung Mara-Marignan. Hier lesen wir erneut von den amourösen Abenteuern von Joey und Carl und müssen diesmal sogar einer krassen Verharmlosung von Vergewaltigung folgen. Auf der Habenseite ist diese Geschichte erzählerisch aber die bei weitem interessantere. Im Mittelpunkt stehen eine alleinerziehende Mutter und eine polnischstämmige Prostituierte, die die beiden Erotomanen in emotionale und moralische Bedrängnis bringen - immerhin.

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